16. Juni, 2024

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Vom Riff zum Revier: Die unscharfe Wissenschaft der Schlüsselarten

Vom Riff zum Revier: Die unscharfe Wissenschaft der Schlüsselarten

In den Weiten des Umweltschutzes ist die Vorstellung von der Schlüsselart ein zentrales Konstrukt – eine Idee, die ihren Ursprung in einer gezeitengeprägten Wasserpfütze hat. Dort nämlich begann der Ökologe Bob Paine in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts damit, Seesterne von einem Felsvorsprung an der US-amerikanischen Pazifikküste zu entfernen, um den Einfluss auf das Ökosystem zu erforschen.

Das daraus resultierende Phänomen – eine Überpopulation von Muscheln, die in Abwesenheit ihrer natürlichen Feinde auch andere Meeresbewohner verdrängten – führte zur Prägung des Begriffs 'Schlüsselart', welche Paine einführte. Die Terminologie verbreitete sich rasch und fand Einzug in die aufkeimende Umweltbewegung sowie in das öffentliche Bewusstsein.

Seitdem wurden mehr als 200 Tierarten in der akademischen Literatur als 'Schlüsselarten' beschrieben, allerdings ohne breiten Konsens über eine genaue Definition. Nach einem Bericht des Magazins Quanta vom letzten Monat steht das Konzept nun auf dem Prüfstand. Von zentraler Bedeutung ist die Überlegung, denn diese Arten bilden das Herzstück des Rewilding-Ansatzes, einer modernen Art des Naturschutzes, der eine Rückkehr zu natürlichen Lebensräumen durch Förderung der biologischen Vielfalt unterstützt. Ohne genaue Kenntnis über die tatsächliche Rolle von Tier- und Pflanzenarten tappen Umweltschützer bei der Wiederherstellung quasi im Dunkeln.

Schlüsselarten werden oft als Spitzenprädatoren eines Gebiets gesehen, wie Wölfe oder Haie, oder als 'Modifikatoren', die ihre Umwelt so verändern, dass sie die Biodiversität fördern. Ein klassisches Beispiel hierfür sind Biber, die Dämme bauen, oder Bisons, die durch ihr Walzen im Gras Vertiefungen für Regenwasser schaffen.

Das Abrinnen von Effekten durch die Restaurierung von Schlüsselarten zeigt sich im Yellowstone-Nationalpark, wo Wölfe 1995 wiederangesiedelt wurden. Die wachsenden Wolfspopulationen hielten Elche in Bewegung und verhinderten so das Überweiden von Weiden, was wiederum Bibern Nahrung und Material bot.

Doch das Konzept des Rewilding konzentriert sich nicht nur auf charismatische Arten wie den Wolf. Es geht darum zu verstehen, welche Arten in welchen Ökosystemen von Bedeutung sind - und diese sind nicht immer offensichtlich, selbst für Experten.

Ishana Shukla, eine Ökologin an der Universität von Kalifornien, Davis, ging davon aus, dass es eine definitive Liste aller jemals aufgezeichneten Schlüsselarten geben würde – fand jedoch keine. Ihre Recherche ergab 230 Tierarten mit dem Etikett 'Schlüsselart', jedoch ohne einheitliche Kriterien.

'Generell ist eine Schlüsselart diejenige, deren Auswirkung auf die Gemeinschaft unverhältnismäßig groß ist im Vergleich zu ihrer Häufigkeit', so Shukla. Doch die Frage, was 'unverhältnismäßig groß' konkret bedeutet, bleibt offen.

Manchmal nehmen Biologen Bewertungen auf Basis von Messungen der Biomasse einer Spezies vor und beobachten, wie sich diese mit dem Kommen und Gehen im Ökosystem verändert, allerdings ohne feste numerische Schwellenwerte. Stattdessen herrscht Ermessen: Verschwindet eine Art und ein Ökosystem verschlechtert sich daraufhin, scheint die Bezeichnung als Schlüsselart gerechtfertigt.

Dennoch ist eine weitere wichtige Erkenntnis, dass sich die 230 Schlüsselarten nicht nur auf Alphatiere wie Wölfe beschränken. Sie reichen vom Gipfel der Nahrungskette bis zu deren Grund, einschließlich Schmetterlinge, Fische oder kleine Säugetiere wie das Schwarzschwanz-Präriehündchen.

Einige Ökologen bevorzugen laut Quanta einen ganzheitlicheren Ansatz beim Naturschutz, der ganze Habitate anstatt einzelner Arten in den Blick nimmt. Doch Shukla plädiert nicht für eine Abschaffung des Schlüsselartkonzepts. Flexible Definitionen würden der unterschiedlichen Weise Rechnung tragen, wie Tier- und Pflanzenarten zur Natur beitragen. Experimente wie im Yellowstone würden zeigen, dass es funktioniert.

Es gibt allerdings eine Art, die tatsächlich eine überdimensionale Rolle bei der Veränderung von Lebensräumen spielt: Der Mensch. Kurz vor seinem Tod im Jahr 2016 beschrieb Paine gemeinsam mit dem Ökologen Boris Worm von der Dalhousie University den Menschen als die 'Hyper-Schlüsselart', die in jedem Winkel des Globus ökologische Veränderungen vorantreibt – von den Ozeanen bis zu den Wäldern.

Wir mögen Wolfe und Haie zentral stellen – doch allzu oft vergessen wir, dass auch wir Mensch eine Spezies im globalen Ökosystem sind.