Anträge schießen in die Höhe
Wer heute beim Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben (BAFzA) arbeitet, dürfte gut zu tun haben. Bis Ende Juni wurden dort bereits 1.363 Anträge auf Kriegsdienstverweigerung gezählt – das ist fast so viel wie im gesamten Vorjahr.
2023 waren es 2.241, 2022 noch 951. Die Zahlen zeigen: Immer mehr Menschen wollen vorsorglich festhalten, dass sie den Dienst an der Waffe aus Gewissensgründen ablehnen.
Ein Thema, das lange kaum eine Rolle spielte, ist mit Wucht zurück auf der Agenda. Und es kommt nicht von ungefähr.
Angst vor der Rückkehr der Pflicht
Der Verteidigungsminister war bemüht, es harmlos klingen zu lassen. Boris Pistorius (SPD) spricht von einem neuen „Wehrdienstmodell“, freiwillig, modern, attraktiv. Doch das Wort „Pflicht“ schwingt in jeder Debatte mit. Und genau das beunruhigt viele junge Menschen – und offenbar auch deren Eltern.
„Die steigende Zahl der Kriegsdienstverweigernden zeigt die berechtigte Sorge vieler Menschen vor einem neuen Zwangsdienst“, sagt Michael Schulze von Glaßer, politischer Geschäftsführer der Deutschen Friedensgesellschaft. Für ihn ist der Anstieg ein Signal an die Politik: „Es ist ein klares Zeichen gegen die Reaktivierung der Wehrpflicht.“

Was erlaubt ist – und was nicht
Tatsächlich ist die Wehrpflicht in Deutschland nicht abgeschafft, sondern lediglich seit 2011 ausgesetzt. Sie könnte jederzeit wieder in Kraft gesetzt werden. Gleichzeitig bleibt das Grundrecht auf Verweigerung bestehen.
Artikel 4 Absatz 3 des Grundgesetzes garantiert jedem das Recht, aus Gewissensgründen den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern.
In den vergangenen Jahren nutzte kaum jemand diese Möglichkeit. Doch das ändert sich gerade – mit bemerkenswerter Geschwindigkeit.
Bundeswehr rückt nach Osten
Gleichzeitig verschiebt sich die sicherheitspolitische Realität. Mit der neuen Panzerbrigade 45 „Litauen“ stellt Deutschland erstmals dauerhaft Tausende Soldaten ins östliche Nato-Gebiet ab. Die Bundeswehr rückt näher an Russland, der Verteidigungsfall erscheint nicht mehr nur theoretisch.
Das mag sicherheitspolitisch konsequent sein – im Inland wächst dadurch aber offenbar das Gefühl, dass es bald auch wieder Pflichten geben könnte, nicht nur Bündnistreue.
Der Wehrdienst als Damoklesschwert
Die Debatte um Wehrgerechtigkeit ist damit zurück. Während Pistorius betont, dass es beim neuen Modell um Freiwilligkeit gehe, fordern Unionspolitiker wie Johann Wadephul (CDU) offen die Rückkehr zur klassischen Wehrpflicht. Die Bundeswehr sei ohne Verpflichtung nicht zu stärken, heißt es. Für viele klingt das wie ein Vorbote.
Im Netz kursieren inzwischen sogar Anleitungen, wie man Kriegsdienstverweigerer wird – obwohl niemand einberufen wird. Die Zahl der Anträge zeigt: Das Bedürfnis, sich abzusichern, ist real. Es geht nicht um Panik, sondern um Vorsorge. Und um ein schwindendes Vertrauen, dass der Staat seine Bürger nicht doch irgendwann wieder verpflichtet.

Nicht gegen die Bundeswehr – aber gegen Zwang
Bemerkenswert ist, wer da verweigert: Es sind keine radikalen Pazifisten oder Systemkritiker. Sondern ganz normale junge Menschen, oft Schüler oder Studierende, die auf Nummer sicher gehen wollen. Sie sind nicht gegen Sicherheit oder gegen die Bundeswehr – sie sind gegen die Vorstellung, gezwungen zu werden.
Der Verweigerungsantrag wird so zur Versicherungspolice in unsicheren Zeiten. Und zu einem stillen, aber deutlichen Votum gegen eine Wehrpflicht durch die Hintertür.
Ein Zeichen, das ernst genommen werden sollte
Die Bundesregierung will die Bundeswehr reformieren, professionalisieren und aufstellen für die neue sicherheitspolitische Lage. Das ist notwendig – keine Frage. Doch die Art und Weise, wie sie über „neue Wehrmodelle“ spricht, wird offenbar als bedrohlich wahrgenommen.
Die steigende Zahl an Verweigerungen ist kein Aufstand – aber ein Alarmsignal. Sie zeigt, wie sensibel das Thema Wehrdienst geworden ist. Und wie groß das Bedürfnis ist, selbst zu bestimmen, ob man Teil einer Armee sein möchte.
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