Vom Hoffnungsschimmer zum Risiko
Noch im Frühjahr schien Europa kurzzeitig wieder auf den Radar internationaler Investoren gerückt. Die Zolldrohungen von US-Präsident Donald Trump hatten Kapital aus den USA nach Deutschland gespült – allein zwischen Januar und Juli flossen 334 Milliarden Euro, mehr als doppelt so viel wie im Dekadendurchschnitt. Doch dieses Zwischenhoch war trügerisch.
„Das Risiko, dass Europa abgehängt wird, ist wirklich sehr hoch. Die USA ziehen Europa davon“, warnt Mohamed El-Erian, Chefberater der Allianz.
Seine Einschätzung teilen mittlerweile viele Großinvestoren: Die Euphorie des Frühsommers ist verflogen, die Geduld erschöpft.
KI-Boom in den USA, Reformstillstand in Berlin
Während in den USA der Börsenboom um Künstliche Intelligenz die Kurse treibt, verliert Europa weiter an Attraktivität. „Europa ist nicht Teil der KI-Story – davon profitieren vor allem die USA und China“, sagt Joyce Chang, Chefin des Research bei JP Morgan.
Der Gegensatz könnte kaum größer sein: Auf der einen Seite investieren US-Konzerne Milliarden in neue KI-Plattformen, Cloud-Architekturen und Halbleiter. Auf der anderen Seite ringen europäische Regierungen um Richtlinien, Ausschüsse und Zuständigkeiten.
„In Europa müssen sich 27 Staaten einigen – und meist einstimmig“, so Chang. „In den USA oder China dauert das keine Woche.“
Deutschland verliert an Schwung
In Deutschland hat sich das viel beschworene „positive Momentum“ des Frühsommers längst in Ernüchterung verwandelt. DZ-Bank-Chef Cornelius Riese beschreibt eine wachsende Ungeduld: „Wir befinden uns jetzt in einer Phase der Ernüchterung. Investoren wollen Reformen sehen – und konkrete Projekte.“
Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) gesteht ein, dass Deutschland seine „Hausaufgaben“ nicht gemacht habe. Zu den zentralen Strukturproblemen zählen weiterhin hohe Energiepreise, überbordende Bürokratie und rekordhohe Abgabenlasten.
Was als „wirtschaftlicher Aufbruch“ angekündigt war, ist zu einem bürokratischen Dauerlauf geworden. Die von der Bundesregierung versprochenen Investitionsoffensiven in Infrastruktur und Rüstung stocken, private Kapitalgeber warten auf konkrete Ausschreibungen.
Die Koalition streitet, die Wirtschaft stagniert
An den Finanzmärkten wird zunehmend registriert, dass politische Konflikte die Regierung lähmen. Streit um Richterwahlen, Steuerfragen oder Sozialreformen signalisiert Investoren vor allem eines: Planungsunsicherheit.
Deutsche-Bank-Chef Christian Sewing warnt, dass sich Deutschland in „eine gefährliche Komfortzone“ manövriert habe. „Investoren warten darauf, dass Deutschland die PS der Fiskalpakete tatsächlich auf die Straße bringt.“
Die Wirtschaft stagniert, das Bruttoinlandsprodukt verharrt seit drei Quartalen auf dem gleichen Niveau. Der ifo-Geschäftsklimaindex ist im September deutlich gesunken – ein weiteres Warnsignal.

Kapital sucht Klarheit – und Geschwindigkeit
Für internationale Anleger zählt vor allem Verlässlichkeit. Doch diese vermissen sie zunehmend in Europa. Während in den USA steuerliche Anreize und rasche Genehmigungsverfahren Investitionen begünstigen, zögern in Deutschland viele Konzerne, überhaupt zu expandieren.
Goldman-Sachs-Manager Kunal Shah spricht aus, was viele denken: „Investoren überlegen zweimal, signifikante Kapitalmengen außerhalb der USA anzulegen.“
Selbst die Ernennung von Ex-Commerzbank-Chef Martin Blessing zum Investitionsbeauftragten des Kanzlers wirkt auf die Märkte wie ein symbolischer Versuch, verloren gegangenes Vertrauen zurückzugewinnen. Entscheidend wird sein, ob daraus Taten folgen.
Europas größtes Problem: Selbstzufriedenheit
Dass Europa technologisch zurückliegt, ist kein Geheimnis. Doch was Investoren wirklich beunruhigt, ist der Mangel an Entschlossenheit. Die letzte große wirtschaftspolitische Kraftanstrengung der EU war die Einführung des Euro – vor über 20 Jahren.
Seither herrscht politischer Kleinmut. „Es fehlt an Tempo, Mut und Koordination“, sagt Chang. „Europa diskutiert über Regeln, während Amerika Märkte schafft.“
Vertrauen ist die neue Währung
Die Kapitalmärkte haben ein feines Gespür für Glaubwürdigkeit. Deutschland und Europa haben bewiesen, dass sie Stabilität können – aber Dynamik fällt ihnen schwer.
Solange Investoren nur Versprechen hören, statt Fortschritte zu sehen, wird ihr Geld dorthin fließen, wo Reformen nicht angekündigt, sondern umgesetzt werden: in die USA. Wenn Europa den Anschluss nicht verlieren will, braucht es weniger Kommissionen – und mehr Entscheidungen.


