Der Stillstand einer Schlüsselorganisation
Seit ihrer Gründung 1995 gilt die WTO als Fundament des globalen Handels. 166 Mitglieder, gemeinsame Regeln, ein Schiedsgericht – all das schuf Transparenz und Berechenbarkeit.
Doch seit 2008 herrscht Reformstau. Die Doha-Runde scheiterte, neue Liberalisierungen sind blockiert, und seit 2017 verhindert Washington die Nachbesetzung des Berufungsgremiums. Ohne funktionierendes Streitbeilegungssystem verliert die Organisation ihre schärfste Waffe.
Zölle und Umgehungstricks
Die Folgen sind sichtbar: Thyssenkrupp Steel etwa berichtet, dass China gezielt Einfuhrregeln umgeht, indem Stahl über Drittländer nach Europa gelangt. In den USA wiederum beschleunigen Strafzölle den Trend zu bilateralen Abkommen.
Exportlastige Unternehmen wie der deutsche Aluminiumproduzent Trimet spüren, wie die globalen Verschiebungen selbst Märkte beeinflussen, die bisher als sicher galten.

Kosten eines Zerfalls
Eine Studie des WIFO beziffert den möglichen Schaden: Die EU würde beim Wegfall der WTO-Regeln rund 0,5 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung verlieren, Deutschland sogar 3,2 Prozent. Für eine Exportnation wäre das ein Schlag, der weit über die Automobil- und Stahlbranche hinausreicht.
„Eine Welt ohne WTO bedeutet weniger Wohlstand und mehr Unsicherheit“, warnt Institutschef Gabriel Felbermayr.
Unsichtbare Arbeit im Hintergrund
Das Bild einer „toten Organisation“ ist dennoch überzeichnet. Zahlreiche Komitees in Genf verhandeln über technische Standards, Zollverfahren oder Grenzabfertigung – unspektakulär, aber systemrelevant. Viele Konflikte werden dort entschärft, bevor sie eskalieren. Zudem bauen fast alle bilateralen Handelsabkommen auf WTO-Regeln auf. Fällt das Fundament, verlieren auch diese Verträge an Bindungskraft.
Die Geburt einer WTO 2.0
Die Blockade durch die USA hat paradoxerweise zu Innovation geführt: EU, China und über 20 weitere Staaten haben ein paralleles Schiedsgericht eingerichtet – eine Blaupause für die Zukunft.

Experten erwarten, dass sich die WTO künftig als „Club-System“ neu organisiert: Plurilaterale Abkommen für bestimmte Themen wie digitalen Handel oder Dienstleistungen, andockend an einen gemeinsamen Rahmen.
Machtverschiebung nach Asien
Neue Mega-Abkommen wie RCEP oder CPTPP entstehen vor allem im asiatisch-pazifischen Raum. Das zeigt, wie sich die wirtschaftlichen Gewichte verschieben. Soll die WTO überleben, muss sie diese Realitäten anerkennen – und Europa wird sich auf Zugeständnisse an Länder wie China, Indien oder Indonesien einstellen müssen.
Ein Schiedsrichter bleibt unverzichtbar
So kompliziert die Reformdebatte ist: Ohne eine multilaterale Instanz fehlt dem Welthandel ein unparteiischer Schiedsrichter. Nationale Alleingänge und regionale Deals können das nicht ersetzen. Das Endspiel um die WTO ist deshalb mehr als institutionelle Kosmetik. Es ist die Frage, ob die Welt in den nächsten Jahren nach gemeinsamen Regeln spielt – oder nach den Gesetzen der Stärkeren.
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