Von der Aufklärung in die Absurdität
Logik, Klarheit, Selbstbeherrschung – all das galt einmal als Ideal. Heute? Liefern Algorithmen unsere Meinungen, TikTok ersetzt Recherche, und wer differenziert, wirkt verdächtig.
Zwei Jahrhunderte nach Kant zeigt sich: Die Menschheit hat sich nicht etwa in Richtung Vernunft weiterentwickelt – sie leidet unter einem intellektuellen Rückfall.
Genau das konstatiert die amerikanische Linguistin und Bestsellerautorin Amanda Montell in ihrem neuen Buch The Age of Magical Overthinking – auf Deutsch: Das Zeitalter des magischen Zerdenkens.
Irrationalität als neue Normalität
Montell hat sich aufgemacht, die dominierenden Denkfehler unserer Zeit zu katalogisieren – und trifft dabei einen Nerv.
In einer Ära der kognitiven Überforderung, der chronischen Vergleichskultur und des gefühlten Niedergangs macht sie elf geistige Verzerrungen aus, die unser tägliches Denken prägen – und uns in Politik, Partnerschaft und Konsumverhalten systematisch in die Irre führen.
Ihre Analyse reicht vom „Haloeffekt“ – der Tendenz, von einer positiven Eigenschaft auf den gesamten Charakter zu schließen – bis hin zur „Versunkenekosten-Falle“, die uns toxische Beziehungen, gescheiterte Investments oder nutzlose Jobs zu lange durchhalten lässt.
Nicht aus Überzeugung, sondern weil wir nicht wahrhaben wollen, wie viel bereits verlorenes Kapital wir retten wollen.

Die Macht der Scheinlogik
Besonders gefährlich: der sogenannte Proportionality Bias – also der Glaube, große Ereignisse müssten zwingend große Ursachen haben. Ein Denkfehler, der das Fundament vieler Verschwörungstheorien bildet.
Und der sich im digitalen Zeitalter nahtlos in Newsfeeds, Telegram-Gruppen und Reichweitenlogik einfügt: Je dramatischer, desto klickbarer – und desto plausibler wirkt es für viele.
Der „Survivorship Bias“ ist ein weiterer Liebling moderner Erfolgserzählungen. Wer auf Instagram eine schwere Krankheit angeblich durch Smoothies heilte, wird gefeiert – dass 99 andere daran gestorben sind, stört nicht. Was zählt, ist das Narrativ.
Nullsummenwahn und Deklinismus – die Welt als Bedrohung
In einer Welt voller Statusvergleiche gedeiht auch die Nullsummenverzerrung prächtig. Wenn andere gewinnen, glauben viele automatisch, selbst zu verlieren.
Die Wirtschaft kennt das längst: Der Erfolg von Tech-Start-ups wird zum Beweis, dass das eigene Geschäftsmodell „unterdrückt“ wird – statt darin eine Gelegenheit zur Kooperation oder Innovation zu sehen.
Montell geht noch weiter: Sie identifiziert im grassierenden Retro-Wahn der Popkultur – von Stranger Things bis zu Britney-Comebacks – einen „Deklinismus“, also die irrige Überzeugung, früher sei alles besser gewesen. Eine Flucht ins Vergangene, geboren aus Überforderung im Hier und Jetzt.
Warum wir unsere eigene Dummheit lieben
Dass wir irrational sind, wäre ja noch verzeihlich. Doch viele dieser Denkfehler belohnen uns auch noch emotional.
Der „IKEA-Effekt“ lässt uns Selbstgebautes höher bewerten – ein Grund, warum Menschen ihre eigenen Tradingstrategien überschätzen oder mühsam erarbeitete Businesspläne nicht aufgeben, obwohl die Realität längst dagegen spricht.
Mit der „Vermessenheitsverzerrung“ – der Tendenz, sich selbst für überdurchschnittlich klug, liebenswert oder sexuell attraktiv zu halten – erklärt Montell den narzisstischen Bias unserer Leistungsgesellschaft.
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Die meisten Menschen glauben, ihr EQ liege über dem Durchschnitt. Statistisch unmöglich – psychologisch nachvollziehbar.
Reimt sich’s, dann stimmt’s
Besonders bitter: Wir glauben oft Dinge, die sich einfach nur gut anhören. Der sogenannte „Wahrheitseffekt“ beschreibt, dass sich Aussagen durch bloße Wiederholung oder Reimform ins Gehirn brennen – unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt. Für Populisten ein gefundenes Fressen. Für rationale Debatten: Gift.
Ein Buch als Spiegel unserer Zeit
Montells Buch ist mehr als eine Sammlung psychologischer Anekdoten. Es ist eine klug formulierte Anklage gegen das, was wir für Fortschritt halten: permanente Selbstinszenierung, digitalisierte Meinungsblasen, die Entwertung von Expertise und die Überhöhung des eigenen Bauchs als letzte Instanz.
Dass sie selbst mit wohlklingenden Fachbegriffen, bissiger Sprache und popkulturellen Referenzen operiert, ist dabei kein Widerspruch – sondern Teil der Inszenierung.
Montell führt uns vor, wie leicht wir uns von Begriffen blenden lassen. Und wie gefährlich das in Zeiten politischer Polarisierung, medialer Komplexitätsreduktion und wirtschaftlicher Umbruchstimmung sein kann.
Was bleibt – außer Selbstzweifel?
Am Ende steht kein Appell zur absoluten Rationalität. Montell ist keine Aufklärerin 2.0, sondern eine scharfsinnige Diagnostikerin.
Ihre Botschaft: Wer die eigenen Denkfehler kennt, lebt vielleicht nicht automatisch klüger – aber aufmerksamer. Und genau das braucht eine Gesellschaft, in der Falschinformationen viral gehen, bevor Fakten verifiziert sind.
Die Frage, die bleibt: Können wir uns noch retten – oder ist das magische Zerdenken längst der neue Normalzustand?
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