30. Juni, 2025

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Tausend strahlende Fässer – und niemand will’s gewesen sein

Im Nordostatlantik entdecken Forscher über 1000 Atommüllfässer – ein Relikt aus Zeiten, in denen der Ozean als Endlager galt. Die Spur führt zu einem verschwundenen Kapitel der Industrialisierung – mit bis heute ungeklärten Risiken für Umwelt, Fischerei und Gesundheit.

Tausend strahlende Fässer – und niemand will’s gewesen sein
Unheimliches Erbe: Über 1000 radioaktive Fässer wurden im Nordostatlantik geortet – Überbleibsel einer Praxis, die erst 1993 weltweit verboten wurde.

Strahlendes Erbe auf dem Meeresgrund

Die Entdeckung ist spektakulär – und alarmierend. Mehr als 1000 Fässer mit radioaktivem Abfall liegen in bis zu 5000 Metern Tiefe im westeuropäischen Becken des Atlantiks.

Ein internationales Forschungsteam unter Leitung des französischen CNRS und mit deutscher Beteiligung ist derzeit auf Mission, um die versenkten Altlasten zu kartieren und ihre Auswirkungen auf das Ökosystem zu analysieren.

Es ist die erste systematische Suche in einem Gebiet, das jahrzehntelang als „praktischer Müllschlucker“ für alles galt, was auf dem Festland niemand haben wollte.

Zwischen 1950 und 1982, ehe ein internationales Verbot 1993 die Entsorgung in Meeren untersagte, kippte eine Allianz aus Industrienationen radioaktive Abfälle tonnenweise ins Meer – mit dem Segen der Politik und unter weitgehender öffentlicher Unkenntnis.

Eine vergessene Praxis – mit Langzeitwirkung

Bis in die späten 80er-Jahre hinein galten die Tiefseegräben als ideale Endlager. Der Nordostatlantik, fernab von Küsten, Schiffsrouten und touristischem Interesse, wurde zum bevorzugten Abladeplatz. Allein in diesem Gebiet vermuten Experten heute bis zu 200.000 Fässer – verrostet, verbeult und potenziell lecke Zeitbomben.

Tiefsee als Müllkippe: Die nuklearen Fässer rosten seit Jahrzehnten in bis zu 5000 Metern Tiefe – viele könnten längst undicht sein und Radioaktivität freisetzen.

Die meisten dieser Fässer sind nur notdürftig gesichert. Der Atomphysiker Patrick Chardon, Projektleiter der Mission NODSSUM, warnt:

„Sie waren nie dafür gedacht, für Jahrhunderte dicht zu halten – sondern nur, um den Druck der Tiefe kurzfristig auszuhalten.“

Das bedeutet: Selbst wenn die Halbwertszeiten vieler Isotope längst abgelaufen sind – was bei Plutonium-239 (24.000 Jahre) ohnehin illusorisch wäre –, könnten Leckagen bereits heute Meerwasser und Organismen kontaminieren.

Forschung mit Roboterauge

An Bord der „L’Atalante“ ist auch der autonome Tauchroboter Ulyx, ausgestattet mit 3D-Kameras und Sonar, der die radioaktiven Geister der Vergangenheit aufspüren soll.

Die Forscher wollen nicht nur die Lage der Fässer erfassen, sondern auch Proben von Wasser, Sedimenten und Lebewesen analysieren. Ziel: eine erste belastbare Karte des nuklearen Erbes im Ozean.

Dabei drängt die Zeit. Zwar verlangsamen die kalten Temperaturen und die Dunkelheit der Tiefsee den Verfall, doch ist völlig unklar, wie viele Fässer bereits gerissen oder korrodiert sind – und was das für die Nahrungskette bedeutet.

Gespenst der Verantwortungslosigkeit

Ein Skandal bahnt sich leise an: Niemand will sich heute verantwortlich zeigen. Die Entsorgung wurde meist ohne genaue Protokollierung durchgeführt, Zuständigkeiten verlaufen im Nebel diplomatischer Vergessenheit.

Dass Staaten wie Großbritannien, Frankreich, Belgien und auch die Bundesrepublik Deutschland einst nukleare Abfälle im Atlantik versenkten, ist dokumentiert – doch die Frage nach der Haftung bleibt unbeantwortet.

Auch ökonomisch hat die Ignoranz von einst einen Preis: Sollte sich die Radioaktivität auf Fischbestände ausweiten, drohen nicht nur Umwelt-, sondern auch wirtschaftliche Schäden in Milliardenhöhe. Die Europäische Fischereiwirtschaft, insbesondere in Portugal, Spanien, Frankreich und Irland, ist direkt betroffen.

Ein Meeresboden als tickende Zeitbombe

Die aktuelle Forschung ist nur ein erster Schritt. Der eigentliche Skandal ist, dass sie überhaupt notwendig ist – weil Staaten über Jahrzehnte eine gefährliche Praxis duldeten, vertuschten oder schlicht vergaßen.

Jetzt, da die Fässer auftauchen wie Leichen nach einem Sturm, stellt sich erneut die Frage: Wer räumt auf? Wer zahlt? Und warum schauen wir erst jetzt hin?

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