Arbeite oder zahle – Moskaus neues Rezept gegen den Ärztemangel
Russland will den akuten Mangel an medizinischem Personal nicht länger hinnehmen – und greift nun zu drastischen Mitteln.
Laut einem aktuellen Gesetzentwurf des Gesundheitsministeriums sollen Absolventen staatlich finanzierter Medizin- und Pharmazieprogramme künftig verpflichtet werden, binnen eines Jahres eine Arbeit im Gesundheitswesen aufzunehmen.

Tun sie das nicht, droht ihnen eine saftige Rückforderung: Das Dreifache der Ausbildungskosten sollen sie an den Staat zurückzahlen.
Die Maßnahme ist Teil einer breiter angelegten Notstrategie. Denn trotz hoher Ausbildungszahlen bleiben viele junge Mediziner dem Beruf fern – oder dem Land gleich ganz.
Rund 23.300 Ärzte fehlen laut Gesundheitsminister Michail Muraschko im russischen System, zusätzlich mehr als 63.000 Pflege- und Technikkräfte. Der Nachwuchs bleibt aus, die Überalterung nimmt zu, die Löhne sind niedrig. Und der Krieg frisst Ressourcen.
Hohe Ausbildungskosten, niedrige Einstiegsgehälter
Ein russischer Medizinstudienplatz kostet den Staat rund 2.480 US-Dollar pro Jahr. Wer also sechs Jahre studiert hat, könnte bei Nichterfüllung der Arbeitsverpflichtung mit Rückforderungen von über 42.000 US-Dollar rechnen – eine Summe, die viele Absolventen finanziell überfordern dürfte.
Tatsächlich aber meiden viele junge Ärzte nicht aus Bequemlichkeit die Krankenhäuser. Vielmehr fehlen ihnen Perspektiven.
Eine Umfrage der Ärztevereinigung „Doctors of the Russian Federation“ aus dem Jahr 2024 zeigt: 78,9 % der Befragten arbeiten in mehreren Jobs gleichzeitig, um finanziell über die Runden zu kommen. Zwei Drittel verdienen monatlich unter 727 US-Dollar – selbst in der Moskauer Region.

Strukturelle Ursachen: Der Preis der Zentralisierung
Nicht nur die Bezahlung schreckt ab – sondern auch die gewaltigen regionalen Unterschiede. In 21 von 89 Regionen unterschreiten Ärztelöhne die gesetzlich festgelegte Untergrenze, kritisierte Regierungskontrolleurin Galina Isotowa im März.
Zwischen benachbarten Regionen klaffen Gehaltsunterschiede von bis zum Dreifachen – ein Treiber für Binnenmigration, Abwanderung und Unzufriedenheit.
Gleichzeitig verliert Russland auch international hochqualifiziertes Personal. Seit Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine im Jahr 2022 haben laut Schätzungen über eine Million gut ausgebildete junge Menschen das Land verlassen.
Allein im Gesundheitssektor gingen rund 2 % des Personals durch Ausreise verloren, weitere Tausende wurden für den Einsatz im Kriegsgebiet abgezogen, berichtet das britische Verteidigungsministerium.

Zwang statt Reform – eine gefährliche Strategie
Statt die Arbeitsbedingungen zu verbessern, setzt die Regierung auf Druck und Repression. Wer den Beruf verweigert, wird zur Kasse gebeten. Wer sich nicht meldet, wird möglicherweise verfolgt.
Damit droht sich ein Problem zu verschärfen, das in Wahrheit systemischer Natur ist: mangelnde Anreize, chronische Unterfinanzierung und politische Unfreiheit.
Denn wo junge Menschen keine Zukunftsperspektive sehen, helfen auch Strafandrohungen nicht.
Schon jetzt beträgt der Anteil der Absolventen, die gar nicht erst in den Staatsdienst eintreten, 35 % bei Ärzten, 40 % bei Pflegekräften. Und auch bei denjenigen, die arbeiten, wächst der Frust. Viele sehen sich als bloße Lückenfüller in einem System, das sie finanziell und gesellschaftlich im Stich lässt.
Putins Ärzte: Mehr Symbolik als Systemlösung
Offiziell dient der Gesetzentwurf der „Verantwortlichkeit gegenüber dem Staat“. Inoffiziell jedoch offenbart er die Verzweiflung einer Regierung, die mit massiven personellen Engpässen in kritischen Bereichen kämpft – und sich zunehmend abschottet.
Der Krieg, die Abwanderung, das Misstrauen in Institutionen: All das mündet in einen gefährlichen Kreislauf aus Fachkräftemangel, Qualitätseinbußen und wachsender innerer Instabilität. Wenn selbst das Gesundheitswesen keine Zukunft mehr bietet, verlieren auch die letzten Hoffnungsträger den Glauben an die Gesellschaft.
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