Roh statt rohköstlich: Die Geburt einer Bewegung
Irgendwann muss der Moment gekommen sein, an dem Rainer Krüger merkte, dass Honig nicht nur süß schmeckt, sondern auch ein Lifestyle-Versprechen transportieren kann.
Seine Allgäuer Wanderimkerei, früher ein unscheinbares Handwerk zwischen Blüten und Bienen, wurde durch TikTok und Instagram zur Bühne für eine Mission: Die Rettung der Menschheit – ein Löffel Rohhonig nach dem anderen.
Dank seiner Anhängerschaft, der selbsternannten „Roh-Gang“, wird Krügers naturbelassener Honig heute weniger als Lebensmittel und mehr als spirituelles Manifest inszeniert.
Wer ihn isst, so suggerieren die Jünger, lebt nicht nur gesünder – er lebt richtiger. Die Inszenierung: betont authentisch, leicht verwackelt, irgendwo zwischen Bienenstock und Selfie-Kamera.
Coach Aaron: Fitnessapostel mit Honiglöffel
An vorderster Front der Bewegung: Coach Aaron. Früher Fitness-Influencer, heute Priester der „göttlichen Nahrung“. Mit ernster Miene verkündet er auf TikTok, dass Rohhonig nicht nur Enzyme enthält, sondern gleich den Schlüssel zu einem moralisch überlegenen Lebensstil.

Zwischen Klimmzügen und Sinnsprüchen wird Honig gelöffelt, als wäre er das Blut einer neuen Weltreligion.
Begleitet von Boran, einem weiteren Aktivisten der süßen Aufklärung, formt sich um Krüger eine Gemeinschaft, die nicht einfach konsumiert – sie bekennt sich. Zur Reinheit. Zur Natur. Und natürlich zum Rohhonig.
„Team Roh“: Zwischen Kult und Kommerz
Was einst ein Hobby-Imkerprofil war, mutiert auf Social Media zum kollektiven Bekenntnis. In den Kommentarspalten stehen sich die Anhänger gegenseitig in der Tugendhaftigkeit kaum nach.
„Ohne meinen Krüger starte ich nicht in den Tag“, schreiben die einen.
„Team Roh seit Tag 1“, verkünden die anderen – als ginge es um den Eintritt in eine Geheimgesellschaft, nicht um ein Glas Honig aus dem Allgäu.
Dass es sich hier im Kern immer noch um Zucker handelt, tut dem Pathos keinen Abbruch. Im Gegenteil: Der Hinweis auf Mineralstoffe, Enzyme und „göttliche Energie“ wird inflationär bemüht.
Kritik, wonach Honig eben auch nur eine andere Form von Kohlenhydraten sei, wird in bester Sektenmanier als „Systempropaganda“ abgetan.
Konflikt mit den Supplement-Industrie
Natürlich bleibt der Kreuzzug nicht unangefochten. Gegner wie More Nutrition oder ESN, Platzhirsche der Fitnesssupplement-Industrie, zweifeln offen an den Gesundheitsversprechen der Roh-Gang.
Krüger wiederum kontert mit einer Mischung aus Studienverweisen, Bienenromantik und einer bemerkenswerten Portion Trotz.
Die Debatten laufen meist nach demselben Muster: Fitness-Influencer warnen vor verstecktem Zucker – die Roh-Gang zitiert Enzymlisten. Gegner bemängeln fehlende wissenschaftliche Belege – Coach Aaron spricht von „Gottes Gabe“.
Es ist ein rhetorischer Tanz auf Instagram, der zunehmend an die Auseinandersetzungen mittelalterlicher Glaubensgemeinschaften erinnert.
Erleuchtung auf Bestellung
So wächst eine Bewegung, deren Verkaufsstrategie weniger auf Argumenten als auf Identität basiert. „Roh“ ist dabei kein Verarbeitungsgrad – es ist ein Glaubensbekenntnis.
Wer Krüger-Honig konsumiert, signalisiert nicht nur Geschmack, sondern Tugend, Selbstdisziplin und ein tiefes Misstrauen gegenüber der modernen Lebensmittelindustrie.
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Dass dieser Trend weniger mit echter Aufklärung als mit cleverem Storytelling zu tun hat, wird dabei elegant übersehen. Warum auch die eigene Überlegenheit hinterfragen, wenn sie sich doch so wohlig ins Instagram-Feed einfügt?
Zwischen Honigglas und Heilserwartung
Rainer Krüger und seine „Roh-Gang“ liefern ein Paradebeispiel dafür, wie sich ein uraltes Produkt mit modernen Mitteln zum Lifestyle hochjazzen lässt. Honig als Identitätsmarker, Influencer als Propheten, die Kamera als Kanzel – eine süße Erfolgsgeschichte, in der das Produkt längst nur noch Mittel zum Zweck ist.
Bleibt nur zu hoffen, dass am Ende nicht mehr zurückbleibt als ein etwas klebriges Gefühl von Übertreibung – und eine Generation, die glaubt, zwischen zwei Löffeln Honig läge der Weg zur Erlösung.