Es ist ein Satz mit Sprengkraft, gesprochen nicht in Berlin, sondern in Warschau:
„Wir dürfen diese Krise in den transatlantischen Beziehungen nicht vergeuden.“
Zbigniew Pisarski, einer der einflussreichsten Sicherheitsexperten Polens, meint ihn genau so.
Denn was in Polen gerade entsteht, ist mehr als eine Wahlkampflaune oder ein Rüstungsrausch. Es ist ein neuer europäischer Machtanspruch.
Polen gibt den Ton an
Inmitten geopolitischer Erschütterungen rückt Warschau in die Rolle, die einst Berlin innehatte: politisches Zentrum, Verteidigungswall und wirtschaftlicher Hoffnungsträger in einem.
Rafal Trzaskowski, der bürgerliche Präsidentschaftskandidat und Bürgermeister von Warschau, nutzt die Wahlbühnen, um die neue Selbstgewissheit Polens offensiv zu vermarkten. Die Botschaft: Wir sind Frontstaat, Fabrik Europas und Fundament der Verteidigung.

Rüstung statt Reformen
Mit Verteidigungsausgaben von 4,1 Prozent des BIP gibt Polen mehr aus als jedes andere EU-Land. Die WB-Gruppe, Spezialist für Drohnentechnologie, steigerte ihren Umsatz zuletzt um 138 Prozent.
Gleichzeitig verschiebt die Regierung Milliarden aus dem Corona-Wiederaufbauplan in Waffenproduktion. E-Busse müssen warten. Es herrscht Pragmatismus am Abgrund.
Das neue Zentrum Europas?
Die strategische Relevanz ist unbestritten. Über Polen laufen 95 Prozent der westlichen Waffenlieferungen in die Ukraine. Warschau gehört zum innersten Kreis der europäischen Sicherheitspolitik. Und doch ist der Glanz brüchig. Die Rechtsstaatlichkeit bleibt angeschlagen.

Die Justizreformen stocken, das Verfassungsgericht ist weiterhin in PiS-Hand, und selbst regierungsnahe Experten kritisieren die Blockadehaltung des Noch-Präsidenten Andrzej Duda.
Ökonomische Schieflage
So dynamisch Polens Rüstungsindustrie ist, so angespannt ist die Gesamtwirtschaft. Das Haushaltsdefizit liegt bei 6,6 Prozent, die Inflation bei fünf Prozent.
Die Reallöhne steigen schneller als die Produktivität. Die Wettbewerbsfähigkeit schrumpft, die Industrie klagt über hohe Kosten. Und: Eine Euro-Einführung, die für Stabilität sorgen könnte, ist politisch unvermittelbar.
Führung mit Fragezeichen
Polen fühlt sich gerufen, Europa zu führen. Und tut es auch – militärisch, rhetorisch, diplomatisch. Doch das Fundament ist porös. Ob Warschau die eigene Ambition mit Substanz unterfützen kann, bleibt offen. Sicher ist nur: Der Kontinent verschiebt sich. Und diesmal nicht nach Westen.