Wer hätte noch vor wenigen Monaten auf die Liberalen gesetzt? Tief im Umfragetief, vom eigenen Wählerstamm angezählt und von Skandalen gezeichnet, stand die Regierungspartei kurz vor dem Abgrund.
Heute aber, am Tag der Parlamentswahl, sieht es plötzlich nach einem knappen Rennen aus – auch dank eines Mannes, der gar nicht auf dem Wahlzettel steht: Donald Trump.
Mit seinen wiederholten Drohungen, Kanada zur „ökonomischen Unterwerfung“ zu zwingen und notfalls gleich zum 51. Bundesstaat zu erklären, hat der US-Präsident eine Welle des Nationalstolzes entfacht.
Eine Stimmung, die vor allem Premierminister Mark Carney nutzt – und die der Opposition von Pierre Poilievre empfindlich schadet.
Plötzlich wieder Rückenwind
Bis Anfang des Jahres führten die Konservativen mit bis zu 25 Prozentpunkten. Die Liberalen, noch unter Justin Trudeau, galten als erledigt. Doch Trudeaus Rückzug und Carneys Aufstieg an die Parteispitze drehten das Rennen.
Der Ex-Notenbanker, krisenerprobt aus der Finanzkrise 2008 und dem Brexit-Chaos in Großbritannien, brachte die Liberalen wieder auf Kurs.
Trump tat sein Übriges. Seine Strafzölle auf kanadischen Stahl, Aluminium und Autoteile, seine Verbalattacken auf Kanada als „schwachen Handelspartner“ – all das ließ die Kanadier enger zusammenrücken.
Carneys „Canada strong“-Kampagne verfing: 42 Prozent Zustimmung in den letzten Umfragen, Konservative nur bei 38.

Trumps Eskalation kommt Carney gelegen
Besonders in Ontario und Québec, den bevölkerungsreichen Schlüsselprovinzen, zeichnete sich zuletzt ein Vorteil für die Liberalen ab. Zwar könnten kleine Verschiebungen im Mehrheitswahlrecht das Ergebnis noch drehen – aber die Nervosität bei Poilievres Team wächst.
Oppositionsführer Poilievre, selbst kein unbeschriebenes Blatt, gilt vielen Wählern als zu konfrontativ, zu polarisierend – fast ein Trump in kanadischem Gewand. Carney dagegen gibt sich staatsmännisch, verspricht Steuersenkungen, eine Stärkung des Mittelstands – und eine klare Linie gegenüber Washington.
„Trump will uns brechen, damit er uns übernehmen kann“, wetterte Carney bei einer seiner letzten Wahlkampfreden. Eine Botschaft, die bei vielen Kanadiern ankommt.
Eine Wahl im Zeichen der Unsicherheit
Doch der Wahlkampf wurde zuletzt von einer Tragödie überschattet: Bei einer Amokfahrt in Vancouver starben elf Menschen, viele weitere wurden verletzt. Auch wenn ein terroristischer Hintergrund ausgeschlossen wird, dämpfte die Tat die Aufbruchsstimmung im Land.
Die Wahlbeteiligung könnte dennoch hoch ausfallen. 7,3 Millionen Kanadier haben bereits vorzeitig abgestimmt – ein Rekord. Insgesamt sind rund 29 Millionen Wahlberechtigte aufgerufen.
Entscheidend wird sein, wer die meisten der 343 Wahlkreise holt – und damit das neue Parlament dominiert. Der Premier wird nicht direkt gewählt, sondern vom Parlament bestimmt.
Trump bleibt das große Risiko
Egal, wie der heutige Abend endet: Trumps Politik hat Kanada verändert. Der Reflex, sich von den USA abzugrenzen, ist stärker als je zuvor. Doch Carneys Balanceakt zwischen nationaler Stärke und internationaler Diplomatie wird kein leichter sein, falls er im Amt bleibt.
Denn eines hat dieser Wahlkampf eindrücklich gezeigt: In Zeiten globaler Unsicherheit bestimmen nicht nur Innenpolitik und Wirtschaftsdaten den Kurs eines Landes. Sondern auch die Stimmungen, die jenseits der Grenzen entstehen.
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