Früher war die U-Bahn ein Ort der Gedanken. Heute ist sie Bühne für Frühstücksfernsehen in Jogginghosen. Nicht im übertragenen Sinne – sondern live, übertragen auf die Smartphones der Pendler.
FaceTime und Co. haben die Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem nicht einfach verschoben. Sie haben sie aufgelöst.
Was mit der Einführung von FaceTime 2010 eher zögerlich begann, ist heute Alltag. Kaum ein öffentlicher Ort, an dem nicht private Gespräche – mit Ton, Bild und vollem Drama – die unmittelbare Umgebung beschallen.
Und während wir genervt die Augen rollen, checken wir gleichzeitig selbst noch schnell Nachrichten am Bahnsteig, machen einen Videoanruf im Café oder filmen uns im Fitnessstudio für die nächste Story.
Vom Tabu zur neuen Normalität
Das Tempo dieser Verschiebung überrascht selbst Medienpsychologen. "Unsere Gehirne springen bei einem Videoanruf sofort in den Modus der sozialen Präsenz", erklärt Pamela Rutledge, Direktorin des Media Psychology Research Center.
Heißt: Wer FaceTimed, blendet seine Umgebung oft aus – ohne böse Absicht. Der unmittelbare Kontakt auf dem Bildschirm fühlt sich wichtiger an als der diskrete Umgang mit Fremden nebenan.

Besonders die Pandemie hat diesen Effekt massiv verstärkt. Zoom-Meetings, virtuelle Geburtstagsfeiern, Videochats mit Großeltern: Was einst als Ausnahme galt, wurde zur Lebensader. Und was am Bildschirm begann, floss nahtlos ins reale Leben über. Öffentliche Räume wurden Erweiterung unserer Wohnzimmer.
Veränderte soziale Normen – und ein stiller Verlust
Dabei geht es nicht nur um Lautstärke oder Rücksichtslosigkeit. Es geht um die schleichende Erosion traditioneller sozialer Codes. In Restaurants, Bibliotheken oder Parks galt es früher als selbstverständlich, fremde Menschen nicht mit privaten Gesprächen zu belästigen. Heute ist es oft die Norm – oder wird zumindest von immer mehr Menschen toleriert.
"Der Nutzen, Gestik und Mimik zu sehen, überwiegt für viele die Wahrnehmung, dass sie andere stören", sagt Rutledge. Tatsächlich helfen Videoanrufe, soziale Signale besser zu deuten als SMS oder Sprachnachrichten.
Studien belegen sogar, dass FaceTiming älteren Menschen, etwa Alzheimer-Patienten, nachweislich Wohlbefinden und soziale Stabilität bringt.
Doch die Kehrseite bleibt: Öffentliche Gespräche auf Lautsprecher oder FaceTime reißen unbeteiligte Menschen unfreiwillig in private Dramen, frohe Nachrichten – oder hitzige Diskussionen. Das führt nicht nur zu Irritation, sondern langfristig auch zu weniger Rücksichtnahme im öffentlichen Raum.
Generationenkonflikt am Display
Interessant: Die Akzeptanz von FaceTime im öffentlichen Raum verläuft entlang unsichtbarer Generationsgrenzen. Während viele Boomer es noch als Unsitte empfinden, sehen es Angehörige der Generation Z eher pragmatisch.
Für sie ist ein Videocall schlicht eine Form des Dabeiseins – oft bevorzugt gegenüber klassischen Telefonaten, die als "kalt" oder "anstrengend" gelten.
Dazu kommt: In Zeiten permanenter Erreichbarkeit und Social-Media-Dauerfeuer fällt es schwer, dem Reiz einer kurzen Videobotschaft zu widerstehen – egal, ob man im Bus sitzt oder auf einen Latte Macchiato wartet.
Der stille Wandel – und die offenen Fragen
Natürlich: Wer sind wir, dass wir anderen verbieten wollen, in der Öffentlichkeit mit ihren Liebsten zu sprechen? Und doch bleibt ein schales Gefühl. Wird der öffentliche Raum nicht ärmer, wenn alle nur noch auf ihre Bildschirme starren oder lautstark private Szenen teilen?
Vielleicht ist es an der Zeit, einen neuen Kodex zu entwickeln – keinen, der technische Möglichkeiten verteufelt, sondern der an Rücksicht und Achtsamkeit appelliert. Denn die Welt muss nicht unser Wohnzimmer sein. Und nicht jedes Gespräch braucht ein Publikum.
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