20. Mai, 2025

Politik

Das Herz der ostdeutschen Chemie darf nicht stillstehen

Der US-Konzern Dow erwägt die Schließung zentraler Anlagen im Chemiedreieck zwischen Leipzig und Halle. Jetzt greift Kanzler Merz persönlich ein – und signalisiert, dass die Zeit der Untätigkeit vorbei ist.

Das Herz der ostdeutschen Chemie darf nicht stillstehen
Dow erwägt die Schließung des Crackers in Böhlen – betroffen ist das Herzstück eines der wichtigsten Chemieverbünde Ostdeutschlands mit über 3.600 Arbeitsplätzen bundesweit.

Der Kanzler greift zum Telefon

Es war kein symbolischer Anruf. Als Friedrich Merz kürzlich den Chef des US-Chemieriesen Dow kontaktierte, ging es nicht um diplomatische Höflichkeiten – sondern um Substanz.

Genauer: um die Zukunft tausender Arbeitsplätze, die Energiepolitik der neuen Bundesregierung und um das industrielle Rückgrat Ostdeutschlands.

Dow erwägt, gleich mehrere Standorte zu schließen, darunter auch den zentralen „Cracker“ in Böhlen. Ein Stillstand dort wäre weit mehr als nur ein regionales Problem.

Stillstand im Cracker, Dominoeffekt im Verbund?

Der Cracker in Böhlen ist nicht irgendeine Anlage. Er ist das energetisch aufgeladene Herzstück einer fein verzahnten Produktionskette.

Hier wird Naphtha – Rohbenzin – unter Einsatz großer Mengen Erdgas in chemische Grundstoffe umgewandelt. Diese wiederum versorgen benachbarte Werke, unter anderem in Schkopau und Leuna.

Fällt Böhlen weg, steht mehr als nur ein Werk still. Die gesamte industrielle Logik des ostdeutschen Chemiedreiecks gerät ins Wanken.

Quelle: Eulerpool

Betroffen wäre nicht nur Dow selbst – sondern ein ganzes Netzwerk an Unternehmen, darunter auch SKW Piesteritz, das jährlich zehntausende Tonnen Vorprodukte liefert. Die Folgen wären gravierend – ökonomisch wie politisch.

Energiepreise, Bürokratie, Unsicherheit – warum Dow zögert

Dow begründet die geplanten Kürzungen mit einem bekannten Dreiklang: zu hohe Energiepreise, schleppende Nachfrage, zu viel Regulierung. Das globale Sparprogramm trifft ausgerechnet jene Region, die nach der Wende viel investiert hat, um alte Chemiebrachen in moderne Industriezentren zu verwandeln.

Seit 1995 hat Dow hier massiv investiert, rund 3.600 Beschäftigte zählt das Unternehmen heute bundesweit – viele davon in Ostdeutschland. Doch genau diese Region ist nun gefährdet.

Nicht wegen mangelnder Fachkräfte oder fehlender Infrastruktur, sondern wegen eines systemischen Problems: Die Rahmenbedingungen passen nicht mehr.

Ein Ausstieg von Dow würde nicht nur das Chemiedreieck schwächen – auch Zulieferer wie SKW, die jährlich zehntausende Tonnen liefern, geraten ins Wanken.

Merz setzt auf günstigen Strom – und weniger Vorschriften

Die neue Bundesregierung aus CDU/CSU und SPD verspricht Abhilfe. Kanzler Merz macht klar, dass er anders regieren will als sein Vorgänger: Planbare und wettbewerbsfähige Energiepreise, weniger Bürokratie, mehr industriepolitische Realität.

Konkret geht es um einen Industriestrompreis, den Wegfall der Gasspeicherumlage und den beschleunigten Ausbau der Wasserstoffinfrastruktur. Ein Gesetzespaket zur Industrieentlastung sei bereits „eingebracht“, heißt es aus Regierungskreisen – doch wie schnell es kommt, ist offen.

Ostdeutsche Ministerpräsidenten formieren sich

Auch die Landespolitik macht mobil. Michael Kretschmer (Sachsen) und Reiner Haseloff (Sachsen-Anhalt) arbeiten gemeinsam daran, Dow vom Rückzug abzuhalten.

In beiden Ländern ist klar: Geht der Cracker, fällt mehr als nur ein Industriebau. Wirtschaftsminister Sven Schulze formuliert es drastisch:

„Wir werden keinen Versuch ungenutzt lassen, die Standorte zu erhalten.“

Arbeitsgruppen wurden eingerichtet, Gespräche mit der Dow-Zentrale laufen. Im Raum steht sogar die teilweise Umstellung auf Wasserstoffproduktion – eine Zukunftsvision, die jedoch Geld, Technologie und Zeit braucht.

Vertrauen ist gut – die Bilanz ist es nicht

SKW Piesteritz, Zulieferer für Dow, kämpft derweil mit den eigenen Zahlen. Die Gasspeicherumlage allein schlägt mit 40 Millionen Euro jährlich zu Buche – bei 800 Millionen Euro Umsatz ein existenzielles Problem. Geschäftsführer Carsten Franzke fordert eine Abschaffung, nicht nur eine Reduzierung. „Sie führt zwangsläufig zu Verlusten.“

Immerhin: Zum ersten Mal seit einem Jahr hat der Aufsichtsrat neue Investitionen freigegeben – ein zartes Signal des Vertrauens. Doch klar ist auch: Ohne politische Rückendeckung sind selbst solche Signale schnell Makulatur.

Die Zeit der Versprechen ist vorbei

Wenn am Sonntag in Bad Saarow das Wirtschaftsforum Ost tagt, werden klare Antworten erwartet. Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) und Finanzminister Lars Klingbeil (SPD) haben sich angekündigt. Erwartet wird ein industriepolitischer Schulterschluss – nicht nur Worte, sondern Taten.

Denn die Chemieindustrie in Ostdeutschland ist mehr als nur ein Wirtschaftszweig. Sie ist ein Symbol für das, was nach 1990 gelungen ist – und für das, was nun zu scheitern droht, wenn nicht gehandelt wird.

Ein Shutdown im Herzen der Industrie?

Dow prüft Alternativen zur lokalen Produktion, möglicherweise auch Importe von Basischemikalien aus dem Ausland. Eine rein betriebswirtschaftlich nachvollziehbare Überlegung – aber eine politische Katastrophe.

Denn das Vertrauen in den Standort Deutschland, in die Energiepolitik, in die Handlungsfähigkeit der Regierung steht auf dem Spiel. Kanzler Merz hat das erkannt. Jetzt bleibt abzuwarten, ob aus Gesprächsbereitschaft auch ein Ergebnis wird.