Ein Kurs wie ein Kampfschrei
Bitcoin kratzt an der Schwelle von 120.000 US-Dollar – und die Spekulationen um eine siebenstellige Bewertung nehmen erneut Fahrt auf. Die üblichen Verdächtigen liefern Prognosen mit der Sicherheit von Wetterberichten: mal nüchtern, mal visionär, mal bewusst reißerisch.
Die Zahl „1 Million“ wirkt dabei längst nicht mehr absurd, sondern wie ein festes Ziel – nur ohne Fahrplan. Doch wer wirklich verstehen will, ob Bitcoin diesen Pfad beschreiten kann, muss tiefer graben als durch Influencer-Posts und bullishe ETF-Promos.
ETF-Zuflüsse: Rückenwind oder Strohfeuer?
Seit der Zulassung der ersten Bitcoin-ETFs ist eine neue Käuferschicht aktiv: institutionell, volumenstark, mit langfristigem Horizont. Allein in den ersten Monaten flossen über 44 Milliarden US-Dollar in diese Produkte.
Klingt nach massivem Rückenwind – doch der ETF-Boom birgt auch neue Risiken. Was passiert, wenn Fondsmanager umschichten? Oder Regulierer nachjustieren? Noch fehlt ein tragfähiger Beweis, dass die neuen Anleger gekommen sind, um zu bleiben.
Das Gold-Narrativ: Noch trägt es
Bitcoin wird gerne als „digitales Gold“ verkauft. Es ist ein einfaches, wirksames Narrativ: begrenzte Menge, nicht inflationierbar, unabhängig von Zentralbanken. Doch das Narrativ ist fragiler, als viele meinen.
Gold hat Jahrtausende kulturelle und monetäre Verankerung – Bitcoin keine zwei Jahrzehnte. Der Weg zum sicheren Hafen führt nicht über Marketingsprüche, sondern über Vertrauen. Und das baut sich nicht in Bullruns auf, sondern in Krisen.

Halving: Weniger Angebot, mehr Fantasie
Alle vier Jahre halbiert sich beim Bitcoin das Angebot neuer Coins – zuletzt im April 2024. Die jährliche Inflationsrate liegt seitdem unter einem Prozent. Theoretisch bedeutet das: Steigende Nachfrage trifft auf ein fast starres Angebot.
Praktisch zeigt sich dieser Effekt erst, wenn große Halter nicht verkaufen – und das tun sie aktuell tatsächlich: Nur noch rund 11 Prozent aller Bitcoin liegen auf Börsen.
Die übrigen werden offenbar gehortet – in Wallets, Cold Storage oder von Staaten wie El Salvador und (inoffiziell) den USA. Das begrenzt das verfügbare Angebot weiter – ein potenzieller Treiber für zukünftige Preissteigerungen.
Geopolitik: Bitcoin als strategische Option?
In einer Welt, in der Vertrauen in Staaten, Währungen und Institutionen sinkt, könnte Bitcoin zum geopolitischen Joker werden. Noch sind es kleine Länder wie El Salvador, die Bitcoin in ihre Staatsreserven aufnehmen. Doch die Fantasie geht weiter: Was, wenn ein G7-Land nachzieht?
Oder China sich – trotz Miningsperre – strategisch neu positioniert? Dass die USA bereits beschlagnahmte BTC-Bestände verwalten, ist kein Geheimnis. Die Frage ist nur: Halten sie sie aus Überzeugung oder warten sie auf den richtigen Verkaufszeitpunkt?
Die Stolperfallen – und warum sie oft ignoriert werden
Trotz aller Euphorie gibt es gewichtige Gründe, warum die Reise zur Millionenmarke scheitern könnte:
- Regulierung: Ein einzelner Beschluss der SEC oder der EU-Kommission kann den Markt in Panik versetzen. Die politische Agenda ist unberechenbar – besonders in Wahljahren.
- Energieverbrauch: Die Debatte um das energieintensive Bitcoin-Mining ist nicht erledigt, sie ist nur vertagt. In einer zunehmend klimapolitisch regulierten Welt könnte Mining zum Angriffsziel werden – besonders bei steigenden Strompreisen und wachsendem Nachhaltigkeitsdruck.
- Technologische Risiken: Das Bitcoin-Protokoll gilt als stabil – aber ist nicht sakrosankt. Angriffe auf Layer-2-Systeme, Wallets oder sogar die Infrastruktur rund um Lightning könnten das Vertrauen untergraben.
- Narrativverlust: Bitcoin lebt von der Idee, dass es eine Alternative ist – zum Geldsystem, zur Inflation, zu politischer Willkür. Sollte dieses Narrativ an Kraft verlieren, fällt der Kurs schneller als er gestiegen ist.
Wie sollten Anleger jetzt reagieren?
Wer Bitcoin hält, muss sich vor allem eines fragen: Woran glaube ich eigentlich? An die Technologie? Das Netzwerk? Die Knappheit?
Oder an die Million? Anleger, die Bitcoin als langfristige strategische Position begreifen, sollten nüchtern bleiben: keine All-in-Strategie, keine Hebelprodukte, kein blinder Optimismus. Sondern Risikomanagement, Diversifikation und ein klares Verständnis dafür, was Bitcoin ist – und was nicht.
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