Die Spreewaldgurke wackelt – und mit ihr ein ganzer Landstrich
Als Till Alvermann Ende 2024 in Golßen antritt, steht er vor einem Problem, das größer ist als jedes Budgetloch. Spreewaldhof, einer der bekanntesten Lebensmittellieferanten Ostdeutschlands, steckt tief in der Krise.
Die Marke ist vielen ein Begriff, die Gurke ein kulinarisches Kultobjekt – doch wirtschaftlich ist das Unternehmen nicht mehr zu retten. Alvermann spricht Klartext: „So war das Geschäftsmodell nicht mehr tragbar.“ Die Entscheidung fällt radikal aus. Nahezu die gesamte Belegschaft muss gehen.
Ein Werk, das bleibt – weil es muss
Eigentlich wollte Andros, der französische Mutterkonzern, das Werk in Golßen schließen und nur noch saisonal im kleineren Schöneiche produzieren lassen.
Doch der Plan trifft auf Widerstand – aus der Belegschaft, von der Bürgermeisterin, vom Landrat, sogar vom brandenburgischen Wirtschaftsminister. Am Ende lenkt Alvermann ein. Golßen bleibt. Doch der Preis ist hoch: Von über 200 Jobs bleiben 30. Der Rest wandert in die Statistik.

Krise hausgemacht – aber nicht nur
Spreewaldhof war nie ein Hochprofit-Unternehmen. Die Marke lebte von Tradition, Regionalität und dem Image ostdeutscher Bodenständigkeit. Doch die Ukrainekrise, steigende Rohstoffpreise und Energiekosten, eine verpatzte Integration nach der Übernahme 2021 – all das bringt das System an seine Grenze.
Der Abschied der früheren Eigentümer Linkenheil und Seidel reißt ein Loch, das auch betriebswirtschaftlich nicht gestopft werden kann.
Die Gurke als Identität – und als Zwang
Was die Entscheidung so explosiv macht, ist nicht nur die wirtschaftliche Seite. Es ist die emotionale Bedeutung, die die Gurke im Spreewald hat. Golßen nennt sich stolz „Heimat der Spreewaldgurke“, feiert alljährlich den Gurkentag, lebt mit und von der Einlegekunst. Die geografische Herkunft ist geschützt – doch was nützt das, wenn niemand mehr da ist, der die Gläser füllt?
Auf den Feldern fahren weiterhin Gurkenflieger, auf denen osteuropäische Erntehelfer bäuchlings liegen und die kleinen, krummen Gurken von Hand pflücken. Doch der Dunst über den Produktionshallen ist schaler geworden. Es ist die letzte Saison, in der hier noch in Vollzeit gearbeitet wird.
Weniger Ware, mehr Marke
Alvermann zieht die Reißleine. Die Nebenprodukte – Sauerkraut für Handelsmarken, Kürbis für Discounter – fliegen raus. Der neue Fokus: Nur noch das eigene Label, und fast ausschließlich Gurken.
Immerhin: Der Absatz ist zuletzt gestiegen, um satte 18 Prozent im Jahr 2024. Im Osten dominiert Spreewaldhof den Markt, im Westen liefert man sich ein Rennen mit Hengstenberg und Kühne.
Trotzdem: Die Erlöse sinken weiter, inzwischen auf rund 80 Millionen Euro – und bald wohl nur noch 50. Die Hoffnung liegt nun auf Effizienz, Saisonproduktion und neuen Absatzmärkten. Alvermann glaubt an einen Neuanfang – wenn auch auf kleinerer Flamme.
Die USA trinken Gurkensaft – Spreewaldhof liefert
Eine kuriose Hoffnung kommt aus Übersee: In den USA trendet „Pickle Juice“, der Gurkensud als Gesundheitsdrink. Alvermann erzählt mit glänzenden Augen von TikTok-Videos, Fitness-Influencern und Exportplänen. Vielleicht ist der Sud, den Deutsche achtlos wegkippen, tatsächlich ein Exportschlager.
Das US-Geschäft könnte Spreewaldhof neue Märkte öffnen. 2027 soll der Betrieb wieder wachsen, sagt Alvermann. Bis dahin fährt er ein Unternehmen im Notbetrieb. Mit Essiggeruch in der Nase und einem Plan in der Tasche.
Ein bitteres Ende mit offenem Ausgang
Dass Spreewaldhof überlebt, ist kein Erfolg – sondern ein Rettungsversuch in letzter Minute. Die Marke bleibt, das Werk bleibt – aber was bleibt von der Substanz? Wo früher Hunderte Beschäftigte die lokale Wirtschaft stützten, bleiben nun Saisonkräfte und Nostalgie.
Ob das reicht? Das entscheidet nicht allein der Markt. Sondern auch die Frage, wie viel uns regionale Herkunft, faire Produktionsbedingungen und ein Stück ostdeutscher Identität wirklich wert sind.
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