Richtungsentscheidung nach historischem Rücktritt
Japan steht an einem Wendepunkt. Nach der Wahlniederlage der Regierungskoalition hat Premierminister Shigeru Ishiba seinen Rücktritt angekündigt. Wer am 4. Oktober seine Nachfolge antritt, wird nicht nur neuer Parteichef der Liberaldemokraten (LDP) – sondern auch Regierungschef der drittgrößten Volkswirtschaft der Welt.
Was auf den ersten Blick wie ein gewöhnlicher Machtwechsel aussieht, ist in Wahrheit ein Duell um die politische Zukunft des Landes. Denn mit Sanae Takaichi und Shinjiro Koizumi stehen sich zwei Bewerber gegenüber, die unterschiedlicher kaum sein könnten: Hier die erzkonservative Machtpolitikerin mit dem Plan für eine wirtschaftliche Neuausrichtung, dort der junge Reformer mit Versprechen auf Modernisierung und gesellschaftlichen Ausgleich.
Takaichi: Die Rückkehr der „Abenomics“
Sanae Takaichi, 64, steht für ein wirtschaftspolitisches Comeback alter Schule. Sie will Teile der Politik ihres Mentors Shinzo Abe wiederbeleben – eine Mischung aus expansiver Fiskalpolitik, aggressiven Konjunkturprogrammen und einer lockeren Geldpolitik, die Japans Wirtschaft einst jahrelang stützte.
Auch wenn der Spielraum für eine Neuauflage der „Abenomics“ aufgrund der enormen Staatsverschuldung heute kleiner ist, scheut Takaichi nicht vor riskanten Maßnahmen zurück. „Verantwortungsbewusste, aber proaktive Fiskalpolitik“ nennt sie ihr Konzept – und schließt eine höhere Neuverschuldung ausdrücklich nicht aus. Ökonomen erwarten im Fall ihres Sieges einen schwächeren Yen, steigende Anleiherenditen und Kursgewinne an der Börse.

Doch Takaichi ist mehr als eine Wirtschaftspolitikerin. Sie gilt als ultrakonservativ, vertritt harte Positionen in Gesellschaftsfragen und setzt sich für eine Aufrüstung der Streitkräfte ein. Auch ein Neuverhandeln des Handelsabkommens mit den USA steht auf ihrer Agenda – falls japanische Interessen gefährdet seien. Ihre Gegner werfen ihr Autoritarismus vor, ihre Unterstützer sehen in ihr eine entschlossene Realpolitikerin, die Japan neu positionieren kann.
Koizumi: Der Hoffnungsträger mit Establishment-Bonus
Auf der anderen Seite steht Shinjiro Koizumi, 44, Sohn des legendären Reformpremiers Junichiro Koizumi. Er gilt als moderner, internationaler und konsensorientierter – eine Art Gegenentwurf zur polarisierenden Takaichi. Sein Fokus liegt auf sozialen Themen: Er will die steigenden Lebenshaltungskosten bekämpfen, die LDP erneuern und Brücken zwischen den zerstrittenen Parteiflügeln bauen.
Koizumi profitiert von seinem Namen und seiner Popularität, doch Kritiker zweifeln an seiner Durchsetzungskraft. Sein Politikstil ist weniger konfrontativ, seine Positionen oft vage. Gerade das macht ihn für das Partei-Establishment attraktiv: ein junger Premier, der sich einbinden lässt und für Koalitionspartner berechenbarer wäre.
Gefahr einer Spaltung und neue politische Kräfte
Die Wahl ist mehr als ein Personalentscheid – sie könnte zur Zerreißprobe für die LDP werden. Teile des konservativen Flügels fühlen sich von der Partei entfremdet, einige suchen bereits nach Alternativen wie der ultrarechten Sanseito. Selbst eine Spaltung der Partei, die Japan seit fast sieben Jahrzehnten fast ununterbrochen regiert, ist nicht mehr ausgeschlossen.

Hinzu kommt der Druck von außen: Japans Wirtschaft schwächelt, die Schuldenquote liegt bei fast 250 Prozent des BIP, und die geopolitische Lage in Asien spitzt sich zu. Eine klare politische Linie ist wichtiger denn je – doch die Parteiführung ist tief gespalten darüber, wie diese aussehen soll.
Offenes Rennen – und hohe Erwartungen
Die Entscheidung fällt zunächst in einer ersten Wahlrunde, in der auch die Parteibasis mitstimmt. Laut Umfragen liegt Takaichi hier leicht vorne, besonders bei jüngeren männlichen Mitgliedern.
Koizumi hat dagegen mehr Rückhalt bei Frauen, älteren Wählern und in der Fraktion. Sollte keiner der fünf Kandidaten eine absolute Mehrheit erreichen, kommt es zur Stichwahl zwischen den beiden Erstplatzierten – höchstwahrscheinlich Takaichi und Koizumi.
Die Märkte verfolgen die Entwicklung mit großem Interesse. Investoren hoffen auf Stabilität, doch sie wissen: Egal wer gewinnt, Japans Kurs wird sich verändern – wirtschaftlich, gesellschaftlich und geopolitisch.
Mehr als eine Personalie
Was in Tokio in wenigen Tagen entschieden wird, ist nicht nur eine Frage, wer die LDP führt. Es ist ein Test für Japans politische Kultur, für ihre Fähigkeit zur Erneuerung – und für den Willen, Antworten auf die großen Herausforderungen der Zeit zu finden.
Ob Takaichis konservative Vision oder Koizumis Reformkurs – beide Wege führen in eine Zukunft mit weitreichenden Konsequenzen. Für die Märkte, für die Außenpolitik, und für ein Land, das sich neu erfinden muss, um in einer sich radikal verändernden Welt Schritt zu halten.
Eines steht fest: Der 4. Oktober wird nicht nur über Japans nächsten Premierminister entscheiden – sondern über die Richtung einer ganzen Ära.
