Zerschlagen, um aufzubauen
Es ist ein Moment, der längst zur Legende geworden ist. 1984, kurz nach seiner Ernennung zum Direktor eines maroden Kühlschrankwerks in Qingdao, lässt Zhang Ruimin 76 fehlerhafte Kühlschränke auf dem Werksgelände mit einem Vorschlaghammer zerstören – öffentlich, vor versammelter Mannschaft.
„Wenn wir diesen Müll verkaufen, zerstören wir nicht nur das Vertrauen der Kunden, sondern auch uns selbst“, soll Ruimin damals gesagt haben.
er Satz war kein PR-Gag, sondern ein Grundsatz, der Haier bis heute prägt: Radikale Kundenorientierung, kompromisslose Qualität – und Verantwortung bis in die kleinste Einheit.
Vom Staatsbetrieb zum globalen Player
Was damals ein kleiner Kühlschrankhersteller war, ist heute ein Weltkonzern mit 48 Milliarden Euro Jahresumsatz und über 120.000 Mitarbeitern. Haier ist in mehr als 100 Ländern aktiv, besitzt Marken wie GE Appliances oder Candy – und ist laut Euromonitor seit Jahren der größte Haushaltsgerätehersteller der Welt.
Doch das wirklich Revolutionäre spielt sich hinter den Kulissen ab: Haier hat das klassische Unternehmensmodell zerschlagen wie einst seine Kühlschränke.
Das Rendanheyi-Prinzip: Kapitalismus auf Steroiden?
Im Zentrum steht das sogenannte Rendanheyi-Modell, das Zhang Ruimin gemeinsam mit dem Unternehmensforscher Gary Hamel entwickelte. Die Idee: Jeder Mitarbeiter wird Unternehmer im Kleinen.
Haier ist in mehr als 4.000 sogenannte Mikrounternehmen gegliedert – kleine Einheiten mit 10 bis 20 Mitarbeitern, die wie Start-ups geführt werden. Sie tragen Gewinn- und Verlustverantwortung, treffen eigenständig Entscheidungen, und sie messen sich nicht am Vorjahr – sondern an der Konkurrenz.

„Nur wenn Menschen wissen, wofür sie arbeiten, schöpfen sie ihr volles Potenzial aus“, erklärte Ruimin einst in einem Interview mit der Harvard Business Review.
Wettbewerb im Inneren: Bonus oder Bankrott
Die Autonomie der Teams hat ihren Preis: Die Grundgehälter sind niedrig, gezahlt wird vor allem für Leistung. Wer die Ziele übertrifft, erhält saftige Boni, teils mehr als 40 Prozent des Gewinns – wer scheitert, wird abgestraft.
Nach drei Monaten Zielverfehlung darf das Team die eigene Führungskraft abwählen. Sogar Kollegen aus anderen Teams dürfen sich bewerben. Ein System, das – vorsichtig formuliert – Druck aufbaut.
„Das ist Turbo-Kapitalismus mit chinesischem Antlitz“, meint der deutsche Organisationssoziologe Stefan Kühl. „Der Einzelne wird vollständig in Verantwortung genommen – mit allen Konsequenzen.“
Von vielen bewundert, von manchen gefürchtet
Westliche Managementdenker loben das System als „Zukunftsmodell der Netzwerkökonomie“. Gary Hamel nennt Haier „die innovativste Organisation der Welt“. Siemens und Bosch analysieren das Modell seit Jahren, Adidas-Chef Bjørn Gulden ließ 2023 prüfen, ob sich Haier-Elemente auf Vertriebsstrukturen übertragen lassen.
Doch Kritiker warnen: Das Modell fordere Selbstverantwortung auf einem Niveau, das in westlichen Sozialstaaten kaum tragfähig sei. Keine betriebliche Altersvorsorge, kaum Absicherung im Fall von Krankheit, permanente Vergleichbarkeit – nicht jeder Mensch sei dafür gemacht.
Warum das Modell nicht nach Deutschland passt
Arbeitsrechtlich wäre das Modell hierzulande kaum umsetzbar. „Haier unterläuft alle klassischen Schutzmechanismen, die wir aus Tarifverträgen oder Betriebsverfassungen kennen“, sagt eine Arbeitsrechtlerin, die nicht namentlich genannt werden will.
Und: In einem kulturellen Umfeld, das auf Sicherheit und Konsens ausgelegt ist, könnten die dauerhaften Abstimmungen, Eigenverantwortung und Unsicherheiten leicht in Erschöpfung umschlagen.
Und trotzdem – warum Haier einen Nerv trifft
Trotz aller Kritik trifft das Haier-Modell einen wunden Punkt in vielen westlichen Unternehmen: Zu viel Bürokratie, zu wenig Verantwortung, Dienst nach Vorschrift, verlorene Nähe zum Kunden. Haier hat sich nicht als Großkonzern verstanden, sondern als Plattform für unternehmerisches Handeln. Das ist riskant – aber es funktioniert.
Haier-CEO Zhou Yunjie formulierte es jüngst auf einer Konferenz so: „Wir brauchen keine Manager. Wir brauchen Unternehmer, die etwas bewegen wollen.“
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