Die Kluft wächst – und zwar rasant
Es ist eine Zahl, die hängen bleibt: 21 Prozent. So stark sind die Realeinkommen deutscher Spitzenmanager zwischen 2019 und 2024 gestiegen. Die Reallöhne der übrigen Arbeitnehmer?
Gerade einmal 0,7 Prozent. Wer solche Zahlen sieht, versteht schnell, warum die Entwicklung nicht nur wirtschaftlich relevant ist – sondern zunehmend politisch brisant.
Verantwortlich für die Analyse ist die Entwicklungsorganisation Oxfam. Sie hat die Vergütung der Vorstandsvorsitzenden der 36 umsatzstärksten deutschen Unternehmen ausgewertet – und kommt zu einem ernüchternden Fazit: Die Schere zwischen denen, die entscheiden, und denen, die ausführen, geht weiter auseinander. Und zwar in einer Geschwindigkeit, die selbst erfahrene Ökonomen aufhorchen lässt.
Vier Millionen Euro – und ein System, das funktioniert
Im Median – also auf halber Strecke zwischen Höchst- und Tiefstwert – erhielten deutsche CEOs zuletzt rund 4,4 Millionen Euro pro Jahr. Inflationsbereinigt ist das ein sattes Plus von 21 Prozent gegenüber dem Jahr 2019. Für die meisten Angestellten dürfte sich diese Zahl wie aus einer anderen Welt anhören.
Denn während die obersten Etagen der Konzerne ihre Boni, Aktienoptionen und Fixgehälter steigerten, kämpften viele Beschäftigte in Deutschland schlicht darum, mit der Inflation Schritt zu halten.
Zwischen Pandemie, Energiekrise und Rekordpreisen blieb vom Lohnplus oft nichts übrig. Im besten Fall stand ein Nullsummenspiel – im schlechteren: ein Verlust an Kaufkraft.
Oxfam schlägt Alarm – und spricht von einer Systemkrise
„Diese Ungleichheit ist kein Betriebsunfall“, sagt Leonie Petersen, Wirtschaftsexpertin bei Oxfam Deutschland. „Sie ist das Ergebnis politischer Entscheidungen – oder unterlassener Entscheidungen.“
Die Organisation fordert eine stärkere Besteuerung hoher Einkommen sowie die Wiedereinführung einer Vermögenssteuer. Vorstandsgehälter, so Petersen, seien „völlig entkoppelt von der Realität der Beschäftigten“.
Tatsächlich zeigt die Analyse, wie schnell sich Spitzenvergütungen vom Rest der Gesellschaft entfernen. Und wie wenig politische Korrektive greifen. Während sich in Talkshows über Kindergrundsicherung oder Bürgergeld gestritten wird, fließen in den Chefetagen Millionen – teilweise ohne klaren Bezug zur unternehmerischen Leistung.

Deutschland ist kein Ausreißer – aber auch kein Vorbild
Im internationalen Vergleich wirkt der deutsche Trend fast noch moderat. Weltweit stiegen die Gehälter von CEOs, die über eine Million Dollar im Jahr verdienen, zwischen 2019 und 2025 um rund 50 Prozent – auf nunmehr 4,3 Millionen Dollar, wie Oxfam mit Verweis auf Zahlen der International Labour Organization (ILO) berichtet.
Doch auch hier gilt: Die Relation ist entscheidend. Denn die breite Masse – in Deutschland wie weltweit – verzeichnete im selben Zeitraum bestenfalls stagnierende Reallöhne. Und in vielen Branchen liegen die Einkommen heute, inflationsbereinigt, sogar unter dem Niveau von 2019.
Was bleibt? Eine ökonomische Warnung mit politischer Sprengkraft
Dass Vorstände gut verdienen, wird kaum jemand infrage stellen. Dass sie in Krisenzeiten aber deutlich stärker profitieren als der Rest, sorgt für Unmut – und birgt sozialen Sprengstoff.
Die Demokratie, so Oxfam, lebe vom Vertrauen in Fairness und Teilhabe. Wer sich abgehängt fühlt, zieht sich zurück – oder radikalisiert sich.
Die Ampelregierung hat bislang wenig unternommen, um diesem Trend entgegenzuwirken. Steuerpolitisch blieb vieles beim Alten. Vorschläge für eine gerechtere Lastenverteilung gibt es, doch sie verhallen oft im politischen Betrieb.
Die Gewerkschaften fordern derweil kräftigere Lohnerhöhungen, die Wirtschaft verweist auf globale Konkurrenzfähigkeit und Margendruck. Und die Politik? Balanciert zwischen Koalitionskompromissen.
Eine einfache Wahrheit zum Schluss
Die Zahl bleibt: 21 Prozent. Sie steht für eine Entwicklung, die sich seit Jahren abzeichnet – und weiter beschleunigt. Für viele ist das mehr als eine Statistik. Es ist ein Gefühl. Und dieses Gefühl sagt: Wer oben ist, bleibt oben. Und wer unten ist, kommt kaum noch nach.
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