Wer führt wirklich im KI-Wettlauf?
Gemessen an reinen Nutzerzahlen wirkt die Sache klar: ChatGPT hat Google Gemini im direkten App-Vergleich weit abgehängt. Über 160 Millionen tägliche Nutzer bei OpenAI – gegenüber rund 35 Millionen bei Google. Auf den ersten Blick eine krachende Niederlage für den Silicon-Valley-Riesen.
Doch diese Zahl erzählt nur die halbe Geschichte.
Versteckte Kräfte: Googles unsichtbares Imperium
Denn wer den Blick vom App Store auf das größere Bild lenkt, erkennt: Googles wahre Macht liegt nicht in Gemini als Einzelanwendung – sondern in seinem gigantischen Ökosystem. Über zwei Milliarden Menschen nutzen Google Search monatlich, rund 1,5 Milliarden täglich.
Und genau hier, im Herzstück des Internetverkehrs, bindet Google seine KI schrittweise ein – ohne dass Nutzer aktiv eine neue App herunterladen müssten.
Android, Chromebooks, die Standardsuche auf iPhones – all diese Kanäle geben Gemini eine Verbreitung, von der selbst ein Shootingstar wie ChatGPT nur träumen kann.

Zahlen, die trügen können
Sam Altmans OpenAI mag schneller gewachsen sein, agiler, medienwirksamer. Aber Googles langfristige Waffe war schon immer die schiere Präsenz auf Endgeräten. Kein aktives Nutzer-Engagement, sondern stille Voreinstellung.
Geminis Nutzerbasis hat sich seit Herbst 2024 vervierfacht – allerdings nicht durch freiwillige Downloads, sondern durch smarte Vorinstallationen. Was im Kartellrecht kritisch gesehen wird, bleibt im Alltag effektiv: Reichweite entscheidet.
Regulatorische Wolken am Horizont
Doch Google könnte Gefahr laufen, sich auf diesem Vorteil auszuruhen. Denn der amerikanische Justizapparat prüft derzeit intensiv, ob Googles Bündelungspraxis kartellrechtswidrig ist. Sollte der Druck steigen und Zwangsverkäufe – etwa von Chrome – durchgesetzt werden, könnte das die Verteidigungsstrategie ins Wanken bringen.
OpenAI wiederum denkt längst in ähnliche Kategorien: Altman ließ verlauten, er würde Chrome übernehmen, sollte Google dazu gezwungen werden, sich davon zu trennen. Ein Zeichen dafür, dass OpenAI die Bedeutung von Distribution erkannt hat – und selbst nach Wegen sucht, systemrelevant zu werden.
Ökosysteme schlagen Einzelapplikationen
Am Ende ist der Wettlauf nicht einfach eine Frage, wer die bessere App hat. Es geht darum, wer die digitale Infrastruktur kontrolliert, wer die Standards setzt, auf denen sich künftige Anwendungen aufbauen.
ChatGPT hat enormes Momentum – doch Google spielt auf einer anderen Ebene: Infrastruktur statt Applaus.
Ob OpenAI das langfristig kontern kann, wird entscheidend davon abhängen, wie erfolgreich das Unternehmen eigene Plattformeffekte entwickelt. Solange bleibt der Kampf ein asymmetrisches Rennen – und die Antwort auf die Frage „Wer führt?“ eine Frage des Blickwinkels.