21. Juli, 2025

Finanzen

Verbraucherschützer gehen gegen Finanzfluss vor: "Finanzfluss ist nicht unabhängig"

Ein Video über ETF-Policen bringt Deutschlands bekanntesten Finanz-Youtuber in Erklärungsnot. Verbraucherschützer werfen Thomas Kehl Einseitigkeit vor – und stellen eine unbequeme Frage: Verkauft Finanzfluss Aufklärung oder Produkte?

Verbraucherschützer gehen gegen Finanzfluss vor: "Finanzfluss ist nicht unabhängig"
Finanzfluss-Gründer Thomas Kehl in einem seiner Youtube-Videos – mit mehr als 1,5 Millionen Abonnenten zählt sein Kanal zu den einflussreichsten Finanzplattformen Deutschlands. Jetzt steht er wegen fragwürdiger Rechenbeispiele in der Kritik.

Der Vorwurf

Verhaltensökonom und Verbraucherschützer Prof. Hartmut Walz nimmt kein Blatt vor den Mund:

„Dass Finanzfluss für seine Berechnungen bestimmte Annahmen treffen muss, ist klar“, betont Walz. Er findet es aber „verdächtig, dass alle Annahmen in den Rechnungen zugunsten der ETF-Police sind.“

In einem viel beachteten Blogbeitrag kritisiert Walz das Video von Thomas Kehl scharf – jenem Mann, der mit Finanzfluss den wohl bekanntesten Finanzkanal Deutschlands betreibt.

Die Kernaussage des Videos: Eine ETF-Police, also ein Versicherungsprodukt mit ETF-Komponente, könne gegenüber einem normalen ETF-Sparplan steuerliche Vorteile bringen.

Was wie ein sachlicher Produktvergleich beginnt, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als ein Paradebeispiel für selektive Modellrechnungen – mit finanziellen Interessen im Hintergrund.

Der Rechenfehler

Eine Million Euro Gewinn – null andere Einkünfte?

Finanzfluss rechnet in dem Video mit einem Modellanleger, der zum Rentenbeginn über eine Million Euro Gewinn aus seiner ETF-Police erzielt – und gleichzeitig keine weiteren steuerpflichtigen Einkünfte hat. Diese Annahme ist für Walz realitätsfern:

„Es gibt wohl im realen Leben so gut wie keinen Menschen in Deutschland, der zwar Erträge aus einer Fondspolice erhält, aber gleichzeitig überhaupt keine steuerpflichtigen Einkünfte hat“, schreibt Walz in einem Blogbeitrag zum Thema.

Renten, Mieten, Kapitalerträge – sie alle würden den Grundfreibetrag auffressen, auf den sich der Steuervorteil der Police stützt.

Der Effekt: Die ETF-Police sieht plötzlich steuerlich besonders attraktiv aus. Aber nur in einer Welt, die es so nicht gibt.


🧾 Was ist eine ETF-Police?

ETF-Policen, auch als Fondspolicen oder ETF-Nettopolicen bezeichnet, sind eine Form der privaten Altersvorsorge, bei der regelmäßig Geld in börsengehandelte Indexfonds (ETFs) investiert wird – jedoch nicht direkt über ein Depot, sondern innerhalb eines Versicherungsvertrags, etwa einer Renten- oder Lebensversicherung.

Der Clou:
Statt wie bei klassischen ETF-Sparplänen die Kapitalerträge jährlich mit Abgeltungsteuer zu versteuern, werden sie in der Police steuerlich aufgeschoben. Bei Auszahlung greift – unter bestimmten Bedingungen – das sogenannte Halbeinkünfteverfahren: Nur die Hälfte der Gewinne wird dann zum persönlichen Steuersatz versteuert.


Die Grauzone

Finanzfluss empfiehlt offiziell nichts – verdient aber mit

Thomas Kehl widerspricht den Vorwürfen. Das Video sei „rein redaktionell entstanden“, sagt er. Die Kritik von Walz habe man ernst genommen, die Rechenbeispiele wurden nachträglich angepasst, die Annahmen transparenter gemacht.

In einem angepinnten Kommentar unter dem Youtube-Video heißt es:

„Wir haben das Rechenbeispiel mittlerweile überarbeitet, um es realistischer zu gestalten.“

Aber warum tauchen solche Annahmen überhaupt auf? Und warum immer zugunsten des Versicherungsprodukts?

Ein Grund könnte die Vertriebspartnerschaft mit einem Anbieter von ETF-Policen sein. Zwar empfiehlt Finanzfluss die Police nicht explizit – aber über sogenannte Affiliate-Links oder Vergleichsrechner auf der Website fließt bei Vertragsabschlüssen durchaus Geld. Die Grenze zwischen Information und Vertrieb verläuft hier fließend.

Finanzfluss rechnet mit einem Modellanleger, der über eine Million Euro Gewinn erzielt – aber keinerlei andere Einkünfte hat. Verbraucherschützer halten das für realitätsfern und manipulierend.

Die Versicherungslüge

Wer kündigt, verliert – und viele kündigen

Walz sieht in ETF-Policen ein strukturell problematisches Produkt: „70 Prozent aller lang laufenden Versicherungsverträge werden vorzeitig gekündigt – der Steuervorteil ist dann komplett weg.“ Und weiter: „Das Halbeinkünfteverfahren greift nur, wenn der Vertrag zwölf Jahre läuft und nicht vor dem 62. Lebensjahr gekündigt wird.“

Ein Szenario, das Finanzfluss im Video kaum thematisiert. Stattdessen wird ein Steuervergleich bemüht, in dem der ETF-Sparer sein Depot alle 15 Jahre komplett umschichtet – mit hohen Steuerzahlungen. Auch das sei realitätsfern, kritisiert Walz: „Anleger schichten allenfalls Teilbeträge um – das Szenario ist konstruiert.“

Die Reaktion

Kehl bleibt ruhig – und lenkt von der eigentlichen Frage ab

Thomas Kehl bleibt gelassen. In einem Interview erklärt er, dass sich Aussagen wie „die meisten Anleger schichten nur Teile um“ empirisch nicht belegen ließen. Außerdem habe man die Vergleichsrechnung inzwischen als Open-Source-Projekt veröffentlicht, um maximale Transparenz zu schaffen.

Doch die zentrale Frage bleibt: Warum wurden die ursprünglichen Rechenbeispiele so konstruiert, wie sie konstruiert wurden? Und warum decken sich diese Konstrukte auffällig mit den Verkaufsargumenten des Vertriebspartners?


Um eine ausgewogene Perspektive zu erhalten, haben wir auch Michael C. Jakob, einen der bekanntesten unabhängigen Aktienanalysten im deutschsprachigen Raum, um eine Stellungnahme gebeten. Jakob gilt als profilierter Beobachter der Finfluencer-Szene und erreicht mit seinen pointierten Analysen und Beiträgen ein breites Publikum von Privatanlegern.

Seine Position ist klar – und bleibt trotz der Anpassungen durch Finanzfluss kritisch, aber differenziert:

„Natürlich war das Ziel, ein komplexes Thema wie die ETF-Besteuerung möglichst verständlich zu erklären. Dass die ursprünglichen Rechenbeispiele nicht alle realistischen Lebenssituationen abgebildet haben, ist nachvollziehbar – und die Kritik daran berechtigt. Allerdings ist es schlicht notwendig, mit Annahmen zu arbeiten, um Unterschiede herauszuarbeiten.“

Zwar lobt Jakob die nachträgliche Offenlegung der Rechenmodelle und die redaktionellen Korrekturen, doch für ihn bleibt ein wesentlicher Punkt offen:

„Dass alle Rechenbeispiele zugunsten der ETF-Police ausfielen, war ein Fehler – und hätte so nicht passieren dürfen.“

Der zweite Kritiker

Auch Michael Ritzau, Honorarberater und Autor von „Die große Fondslüge“, zeigt sich überrascht: „Wenn das Hauptargument für ein Produkt die Steuerersparnis ist, sollten Anleger sehr vorsichtig sein.“

ETF-Policen seien teuer, unflexibel und nur unter Idealbedingungen überhaupt günstiger. Der Fokus auf Steuern führe Anleger in die Irre: „Die Leute sollen investieren, nicht steuersparen spielen.“

Die Systemfrage

Ist Finanzfluss noch unabhängig?

Niels Nauhauser von der Verbraucherzentrale Baden-Württemberg geht noch weiter: „Finanzfluss ist keine unabhängige Informationsquelle.“ Das Geschäftsmodell sei klar auf Produktverkäufe ausgerichtet – Provisionen, Affiliate-Links, Sponsoring.

Auch wenn der Inhalt journalistisch daherkomme, sei es eben doch ein Vertriebskanal. „Wer über Produkte berichtet, an denen er verdient, muss doppelt transparent sein – oder ganz darauf verzichten.“

Vertrauen ist schwer aufgebaut – und schnell verspielt

Der Fall zeigt, wie eng heute Aufklärung und Marketing verzahnt sind – besonders bei Youtube-Formaten, die wie neutrale Ratgeber wirken, in Wahrheit aber wirtschaftlich eng mit den Produkten verwoben sind, die sie erklären.

Dass Finanzfluss viele junge Menschen für Geldthemen begeistert, ist unbestritten. Doch gerade deshalb muss der Kanal höhere Maßstäbe an sich selbst anlegen. Wer Unabhängigkeit predigt, darf nicht gleichzeitig unkritisch Produkte präsentieren, an deren Abschluss er mitverdient.

Thomas Kehl hat die Kritik angenommen, das Video angepasst, Transparenz versprochen. Das ist mehr, als viele andere Finfluencer je tun würden. Aber es bleibt ein Vertrauensbruch – und die leise Erkenntnis, dass selbst der Saubermann der Finanzszene nicht frei von Interessen ist.

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