Trotz Reduktion bleibt der Warenbestand hoch. Gebundenes Kapital erschwert Investitionen – und lässt den Schuldenberg von fast 478 Mio. Euro drückend wirken.
Unternehmen
200 Millionen Euro verbrannt – Wie Canyon zum Sanierungsfall wurde
Die belgische Investmentholding GBL wertet ihre Beteiligung an der Rennradmarke Canyon drastisch ab. Einbruch der Nachfrage, Qualitätsprobleme und hohe Lagerkosten lassen die Euphorie nach der Corona-Hausse verpuffen. Der Hersteller sucht jetzt neue Wege – unter hohem Druck.
Noch vor wenigen Jahren galt Canyon als das Paradebeispiel dafür, wie sich ein digital aufgestellter deutscher Mittelständler in einem schwierigen Markt behaupten kann – mit High-End-Produkten, direkten Vertriebswegen und einem fast schon kultisch verehrten Markenimage.
Doch spätestens seit dem Frühjahr 2025 ist klar: Diese Geschichte bekommt nun ein ganz anderes Kapitel. Mehrheitseigner Groupe Bruxelles Lambert (GBL) hat sein Investment in Canyon um satte 200 Millionen Euro abgewertet – und das nicht ohne Grund.
Von der Straße in die Bilanz: Der steile Weg nach unten
Sportlich fährt Canyon weiter vorne mit. 2024 war ein Jahr voller Medaillen, Pokale und Weltmeistertitel – vor allem im Triathlon, Gravel- und Straßenradsport. Doch während Laura Philipp Gold in Kona holte, fiel Canyon wirtschaftlich immer weiter zurück.
Der Nettoverlust im Jahr 2024: 38 Millionen Euro. Und das, obwohl die Umsätze mit 784 Millionen Euro stabil blieben. Bereits 2023 hatte das Unternehmen 14 Millionen Euro verloren – ein Trend, der sich im ersten Quartal 2025 fortsetzt.
Trotz sportlicher Erfolge wie Ironman-Gold bleibt Canyon wirtschaftlich im Sinkflug: 38 Mio. Euro Verlust im Jahr 2024, weitere 4 Mio. im ersten Quartal 2025.
GBL schreibt rund 43 % ihrer Beteiligung ab
In nüchternen Zahlen klingt das so: Die Brüsseler GBL hatte sich 2020 rund 400 Millionen Euro kosten lassen, um etwas mehr als die Hälfte an Canyon zu übernehmen.
Nun wurde der Buchwert auf 261 Millionen Euro reduziert. Eine Wertkorrektur von über 43 Prozent – mitten in einem Markt, der sich nach der Corona-Euphorie in der Flaute wiederfindet.
Die Fahrradbranche ist in eine doppelte Krise gerutscht: Nach pandemiebedingten Lieferkettenproblemen kämpft sie jetzt mit massiven Nachfrageeinbrüchen. Hersteller und Händler sind gezwungen, ihre Lagerbestände mit teils ruinösen Rabatten abzubauen – was nicht nur die Margen drückt, sondern auch die Marke beschädigt.
Qualitätsprobleme beim E-Mountainbike und aggressive Preisnachlässe
Besonders problematisch: Bei elektrischen Mountainbikes traten laut GBL Qualitätsmängel auf, die Canyon dazu zwangen, einzelne Modelle vorübergehend ganz vom Markt zu nehmen. Gleichzeitig reagierte der Hersteller mit teils drastischen Preisnachlässen auf das Überangebot im Markt.
Das Resultat: angeschlagene Renditen, verunsicherte Kunden – und ein Rückgang des Umsatzes im ersten Quartal 2025 um knapp ein Prozent im Vorjahresvergleich.
Besonders betroffen sind Cityräder und E-Bikes – Segmente, die eigentlich als Wachstumsfelder galten. Einziger Lichtblick: Im Kerngeschäft mit Rennrädern und Gravelbikes vermeldet Canyon weiterhin solides Wachstum.
Lager und Schulden drücken – und bremsen jeden Aufbruch
Canyons größter Gegner sitzt allerdings in den eigenen Hallen: Die Lagerbestände lagen zum Jahresende 2024 bei 352 Millionen Euro – trotz Reduktion um 16 Prozent.
Auch die Schuldenlast bleibt hoch: 477,5 Millionen Euro an Verbindlichkeiten lasten auf der Bilanz, die sich nur leicht verringert haben. Beides bindet Kapital, das für Investitionen und Transformation dringend gebraucht wird.
GBLs Reaktion: spät, aber konsequent
Bemerkenswert ist dabei, wie spät GBL auf die Entwicklung reagiert hat. Andere Investoren, etwa Teslin Capital, haben ihre Fahrradbeteiligungen – in diesem Fall am Accell-Konzern – bereits Ende 2023 drastisch abgewertet. Dass GBL nun erst 2025 eine vergleichbare Korrektur vornimmt, ist Ausdruck eines gewissen Zögerns – aber auch ein Zeichen, dass die Lage bei Canyon struktureller Natur ist.
Eine Anfrage zur Lage und Strategie beantwortete GBL nicht – man lässt die Zahlen sprechen.
Neue Strategie mit Risiko: Individualisierung und Luxusoffensive
Canyon versucht nun, die Krise mit einer Verlagerung ins Hochpreissegment zu kontern. Mit „MyCanyon“ startet der Hersteller im Sommer ein Customizing-Programm, das zunächst das Rennrad-Modell „Aeroad CFR“ umfasst. Preis: ab 8.500 Euro – exklusive Individualisierung. In den USA werden für exklusive Lackierungen bis zu 1.500 Dollar Aufpreis fällig.
Das klingt edel – ist aber operativ heikel. Denn Individualisierung ist teuer, komplex und schwer zu skalieren. Konkurrent Rose Bikes hat sich deshalb bereits vor Jahren bewusst davon verabschiedet. Der damalige CEO sprach von einem „Effizienzkiller“. Ob Canyon diese Herausforderung besser bewältigt, bleibt offen.
Campus statt Kapitulation?
Trotz allem will Canyon investieren: Bis Frühjahr 2026 soll in Koblenz ein neuer „Canyon Campus“ entstehen – inklusive 1.200 Quadratmeter großem E-Bike-Store.
Auch ein Store in München wurde bereits eröffnet. Die Expansion auf der Fläche ist bemerkenswert – vor allem, weil das Unternehmen weiterhin kein Geld verdient.
Die entscheidende Frage lautet daher: Ist das eine mutige Vorwärtsstrategie – oder bloß die Flucht nach vorn?