Ein Sturm über dem Präsidentenbüro
Selenskyj schwört auf den Kampf gegen die russische Invasion – doch während Panzer rollen, wächst im eigenen Land die Wut. Auslöser: Gesetz Nr. 12414. Seit Dienstag ist es offiziell – das ukrainische Parlament hat die Unabhängigkeit der wichtigsten Antikorruptionsbehörden beschnitten. Und zwar drastisch.
In der Nacht danach versammeln sich in Kiew Tausende Menschen, viele jung, viele in Uniform, viele mit Plakaten: „Korruption liebt Stille“, steht auf einem. „Die Ukraine ist nicht Russland“, auf einem anderen. Es sind keine typischen Kriegsproteste. Es ist ein Misstrauensvotum gegen die politische Führung.
Weniger Kontrolle, mehr Macht im Präsidentenbüro
Die neue Regelung sieht vor: Das Nationale Antikorruptionsbüro (NABU) und die Sonderstaatsanwaltschaft SAPO unterstehen künftig direkt dem Generalstaatsanwalt – einer Person, die vom Präsidenten selbst ernannt wird. De facto heißt das: Die Regierung kontrolliert künftig die Kontrolleure. Ein Albtraum für all jene, die auf einen echten EU-Kurs der Ukraine gehofft haben.
Zum ersten Mal seit Beginn des Krieges richtet sich der Protest gegen den Präsidenten selbst – auch wenn viele Demonstrierende ihre Kritik lieber an dessen einflussreichen Berater Andrij Jermak adressieren. Er gilt ohnehin als heimlicher Strippenzieher, manche nennen ihn „Schattenpräsident“.

Selenskyjs Argument: russischer Einfluss
In einer Videobotschaft verteidigte Selenskyj das Gesetz. Es sei notwendig, um russische Einflussversuche innerhalb der Antikorruptionsbehörden zu eliminieren. Ein bemerkenswerter Vorwurf – immerhin wurden weder konkrete Beweise präsentiert, noch richterliche Beschlüsse für die jüngsten Razzien gegen NABU-Mitarbeiter vorgelegt.
Laut Transparency International wurden über 70 Durchsuchungen durchgeführt – ohne Gerichtsbeschluss, auf Grundlage vager Anschuldigungen. Mindestens 15 Personen betroffen. Kritiker vermuten: Die Angriffe auf NABU und SAPO dienen nicht der Sicherheit, sondern der Disziplinierung.
Das Timing ist politisch brisant
Der Gesetzesentwurf kam ausgerechnet zu einer Zeit, in der Ermittlungen gegen einen Ex-Minister aus Selenskyjs Umfeld liefen: Oleksij Tschernyschow, ehemals Regionalentwicklungsminister und enger Vertrauter des Präsidenten. Die Vermutung liegt nahe, dass mit dem Gesetz unbequeme Ermittlungen im Keim erstickt werden sollen – bevor sie der Regierung zu gefährlich werden.
Die NGO AntAC schreibt: „Es geht darum, NABU und SAPO zum Schweigen zu bringen – genau in dem Moment, in dem sie Selenskyjs innerem Zirkel gefährlich nahekommen.“
Brüssel ist alarmiert
Für die EU ist die Unabhängigkeit der Justiz eine rote Linie – nicht nur auf dem Papier. Kommissionssprecher erinnern daran, dass finanzielle Hilfe für die Ukraine an demokratische Standards geknüpft ist. EU-Kommissarin Marta Kos nennt das Gesetz einen „ernsthaften Rückschritt“.
Auch Washington blickt zunehmend kritisch auf Kiews Innenpolitik. Dabei hatte Selenskyj 2019 mit einem Reformversprechen Wahlkampf gemacht – sein Wahlsieg wurde in Europa und den USA als Aufbruch gefeiert.

Ein gefährliches Spiel mit der Glaubwürdigkeit
Die Ukraine steht auf Platz 105 von 180 im Korruptionsindex von Transparency International – das schlechteste Ergebnis Europas neben Russland. Fortschritte gab es zuletzt durchaus, gerade durch NABU und SAPO. Dass nun ausgerechnet diese Institutionen geschwächt werden, lässt bei vielen den Verdacht aufkommen: Der Präsident will die Kontrolle behalten, koste es, was es wolle.
Für viele Ukrainer geht es nicht nur um ein Gesetz, sondern um eine Grundsatzfrage: Kann ein Land, das sich gegen eine imperialistische Autokratie verteidigt, gleichzeitig demokratische Prinzipien aufweichen?
Eine gespaltene Gesellschaft im Schatten des Krieges
Demonstrantin Marie sagt: „Wir bauen gerade unser Land neu auf – aber nicht so. Wir wollen Demokratie, kein System wie in Moskau.“ Neben ihr steht der 21-jährige Matthew, gehüllt in eine ukrainische Flagge. Seine Stimme bricht fast, als er ruft: „Die Ukraine ist nicht Russland!“
Es sind Sätze, die nicht nur im Inland, sondern auch in Brüssel und Washington gehört werden. Denn ein demokratisches Kiew ist nicht nur für die Ukrainer wichtig – es ist auch das moralische Fundament, auf dem Europas Hilfe ruht.
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