28. Mai, 2025

Wirtschaft

Wie Deutschland die Pharmaindustrie zur neuen Leitbranche macht

Nach Jahrzehnten im Schatten der Autoindustrie rollt die nächste Wachstumswelle – mit Milliardeninvestitionen, ambitionierten CEOs und der Hoffnung, Deutschland wieder zur Apotheke der Welt zu machen. Doch bis zur neuen Leitindustrie fehlt mehr als nur Risikokapital.

Wie Deutschland die Pharmaindustrie zur neuen Leitbranche macht
Rückgrat gesucht: Die Autoindustrie wankt, doch ob die Pharma sie ersetzen kann, bleibt offen. Der Wandel zur Gesundheitswirtschaft als Leitsektor gelingt nur, wenn Kapitalzugang, Ethikverfahren und Förderpolitik grundlegend reformiert werden.

Als Dave Ricks, CEO des US-Pharmariesen Eli Lilly, kürzlich zum zweiten Mal in die rheinland-pfälzische Provinzstadt Alzey reiste, war das mehr als eine PR-Geste.

Es war ein Bekenntnis. 2,3 Milliarden US-Dollar investiert sein Unternehmen in ein neues Werk, das künftig Medikamente wie die umsatzstarke Abnehmspritze Mounjaro produzieren soll.

Die Baustelle ist Symbol für etwas Größeres: einen fundamentalen Wandel in der deutschen Wirtschaftsstruktur. Die Bundesregierung hat längst entschieden, dass die Pharma- und Biotechbranche zur neuen Leitindustrie aufsteigen soll. Die Standortstrategie ist damit klar. Doch der Weg dorthin ist weit – und voller Stolpersteine.

Pharma statt PS: Wenn die Autoindustrie schwächelt

Die Automobilbranche – einst das wirtschaftliche Rückgrat der Bundesrepublik – steht unter massivem Druck: Transformation, Absatzkrisen, Überregulierung. Seit Jahren schrumpfen Margen und Beschäftigung.

In Alzey entstehen für 2,3 Milliarden Dollar neue Produktionsanlagen von Eli Lilly. Der US-Konzern setzt auf den Standort Deutschland – doch bürokratische Hürden und langwierige Genehmigungsprozesse bleiben zentrale Standortnachteile.

Die Bundesregierung zieht nun Konsequenzen. Mit der Gesundheitswirtschaft, insbesondere der forschenden Pharmaindustrie, soll ein neuer Anker für Wertschöpfung und Beschäftigung entstehen.

Die Zahlen wirken vielversprechend: Allein seit 2023 haben Pharmafirmen Investitionen von über sieben Milliarden Euro in Deutschland angeschoben. Branchenriese Roche stockt seine Präsenz massiv auf, Daiichi Sankyo baut für eine Milliarde in Pfaffenhofen. Und der Zulieferer Vetter Pharma zieht in ein ehemaliges Ford-Werk in Saarlouis ein. Hier entsteht ein neuer industrieller Herzschlag.

Viel Potenzial – und viel Bürokratie

Die Voraussetzungen für den Boom sind da: Weltweit steigende Gesundheitsausgaben, eine alternde Bevölkerung und technologische Fortschritte machen Pharma zu einer Wachstumsgeschichte mit Langfristpotenzial.

Deutschland besitzt mit Unternehmen wie Biontech, Bayer oder Merck nicht nur Know-how, sondern auch globale Marken mit Reputation.

Doch die Realität hinkt dem Anspruch hinterher. Zu wenig Risikokapital, fragmentierte Zuständigkeiten, zersplitterte Ethikkommissionen – an genau diesen Strukturen scheitern regelmäßig klinische Studien in Deutschland. Wer ein neues Medikament zur Zulassung bringen will, findet in den USA bessere Bedingungen – und schnelleres Kapital.

Kapitalschwäche trifft Innovationshunger

Der Fall Biontech zeigt die Ambivalenz des Standorts: Weltweite Bekanntheit, Milliardenumsätze, medizinische Pionierarbeit – aber Börsengang in New York. Auch Curevac wich aus. Der Grund: In Deutschland fehlt es nicht an Ideen, sondern am tiefen Geldbeutel für groß angelegte Studien.

2024 war trotz aller Widrigkeiten ein Rekordjahr für deutsche Biotechs: 1,92 Milliarden Euro Kapital wurden eingesammelt – ein Hoch, wenn man die Pandemie-Sonderkonjunktur herausrechnet. Doch Analysten warnen: Ohne internationale Fonds oder Börsengänge in den USA lassen sich die immensen Finanzierungslasten der nächsten Entwicklungsschritte kaum stemmen.

Politik und Industrie: Lippenbekenntnisse reichen nicht

Dass die neue Gesundheitsministerin Nina Warken in ihrer ersten Regierungserklärung explizit die Rolle der Pharmaindustrie betont, ist ein gutes Signal – aber eben auch nur das: ein Signal.

Was der Branche fehlt, sind belastbare Rahmenbedingungen. Schneller genehmigte Studien, verlässliche Förderinstrumente, steuerliche Anreize für Innovation.

Und nicht zuletzt: ein neues Selbstverständnis. Deutschland muss Pharma und Biotech nicht als Resteverwerter vergangener Glanzzeiten begreifen, sondern als Industriesäulen mit weltweiter Strahlkraft. Die moderne „Apotheke der Welt“ entsteht nicht durch Nostalgie, sondern durch mutige Reformen.

Ein Sektor im Wartestand

Die Voraussetzungen sind vorhanden, das Kapital fließt an – aber das Korsett aus Regulierung, Kapitalmangel und politischen Zaudern hemmt den Aufstieg. Noch ist die Pharmaindustrie nicht das neue Rückgrat der deutschen Wirtschaft, sondern ein ambitionierter Kandidat mit Rückenwind und Altlasten.

Es braucht eine koordinierte Strategie, mehr Mut zur Vereinfachung – und einen Staat, der nicht nur fördert, sondern auch fördert, was förderwürdig ist. Die Gesundheitsindustrie kann die Autoindustrie nicht eins zu eins ersetzen. Aber sie kann etwas anderes werden: Ein nachhaltiges Versprechen auf Fortschritt, Wertschöpfung und globale Wettbewerbsfähigkeit. Vorausgesetzt, man lässt sie machen.

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