Wie Berchtesgadener Land Aldi und Müllermilch Paroli bietet
Die Genossenschaft Berchtesgadener Land bezahlt kleine Höfe fair, investiert dreistellig in moderne Produktion – und verweigert sich dennoch dem Billigregal. Das Modell stellt die Regeln eines globalisierten Milchmarkts auf den Kopf.
Einstieg ohne Umweg: Ein Tetra Pak als Kampfansage
Rahm und ein pflanzlicher Stabilisator – mehr steckt nicht in der „Rahm zum Kochen“ der Molkerei Berchtesgadener Land. Punktner, 49, Geschäftsführer und bekennender Purist, hält damit stillschweigend eine Vorlesung über Marktpositionierung: weniger Zutaten, mehr Haltung.
Seine Kritik an „Kochcremes“ mit Buttermilch, Magermilchpulver und Verdickern zielt auf das Prinzip „Streckung statt Qualität“. Der Satz, der alles erklärt:
„Unser höchstes Gut ist unsere Glaubwürdigkeit.“
Der Gegenentwurf zum industriellen Mainstream
Berchtesgadener Land (offiziell: Milchwerke Berchtesgadener Land Chiemgau eG) ist eine Genossenschaft – und lebt das auch. Rund 1600 Mitgliedsbauern, im Schnitt 30 Kühe, keine Mindestabnahme, Abholung bis auf 1600 Meter, notfalls mit Schneeketten.
Ein Drittel der Mitglieder melkt vor und nach dem Schichtdienst; die Molkerei fährt bis an den Hang, wo andere längst abgewunken hätten. Rein betriebswirtschaftlich ist das unvernünftig. Für die Marke ist es Gold wert.
Stabil und schuldenarm – trotz hoher Kosten
Die Genossenschaft erwirtschaftet knapp 345 Millionen Euro Umsatz, wächst zuletzt um 4,4 % und weist einen Eigenkapitalanteil von rund 83 % aus – Kennzahlen, die in einer energieintensiven Branche nach der Energiepreisschock-Ära nicht selbstverständlich sind.
Kostenfaktor Alpen: Die Milcherfassung im Gebirge kostet doppelt so viel wie im Flachland – trotzdem zahlt die Genossenschaft höhere Milchpreise als die Konzerne.
Parallel stemmte die Molkerei in den vergangenen zehn Jahren 250 Millionen Euro für einen Komplettneubau „auf der grünen Wiese“. Wer so investiert, braucht Planbarkeit – und die entsteht hier nicht durch Lieferverträge im Discount, sondern durch eine Marke mit Aufpreis.
Ein Markt, der gegen die Kleinen läuft
Die Struktur des Milchmarktes ist erbarmungslos: Preise hängen zu rund 80 % am Weltmarkt, der Lebensmitteleinzelhandel drückt, Flüssigmilch schrumpft, Pflanzenalternativen kommen auf ~10 % Marktanteil.
Die Konsolidierung beschleunigt: Der dänische Riese Arla will sich mit DMK zusammenschließen – zusammen wären es rund 19 Mrd. € Umsatz. In dieser Welt ist Berchtesgadener Land ein Anachronismus – und gerade deshalb ein Studienfall.
Marke statt Masse: das Alpenprinzip
Seit 1988 vermarktet die Genossenschaft ihre „Bergbauernmilch“ – ein einfaches, aber wirksames Versprechen: Höfe über 700 m oder auf extremen Hanglagen, regionale Herkunft, kurze Wege.
Das touristische Alpenimage liefert „Gratiswerbung“: Laster, Hütten, Souvenirshops – die Marke ist im Urlaubsbild verankert. Marketingquote: ~1 % des Umsatzes, branchenüblich ist das Zehnfache. Der Effekt: Die Marke trägt sich durch Sichtbarkeit in der Region – und durch Konsumenten, die das Urlaubsgefühl in den heimischen Kühlschrank verlängern.
Strukturwandel am Hof: Rund 300 Mitglieder gingen durch Hofaufgaben verloren – Investoren treiben die Flächenpreise, Höfe werden zu Luxusimmobilien.
Bio-Pionier mit Doppelspurigkeit
1973 als erste deutsche Molkerei Bio-zertifiziert, verarbeitet Berchtesgadener Land Bio und konventionell strikt getrennt. Der Bioaufschlag liegt bei +12 Cent je Liter – und trotzdem entscheidet nicht jeder Hof dafür.
Warum? Weil Regeln wie ganzjährige Weidehaltung in alpinen Lagen nicht immer tiergerecht sind. Hier zeigt sich die Stärke des Genossenschaftsmodells: Es belohnt, ohne zu bevormunden – und hält die Lieferkette flexibel.
Keine Handelsmarken, kein Discount – und trotzdem skalierbar
Das vielleicht wichtigste strategische „Nein“: keine Eigenmarkenproduktion für Händler, kein Vertrieb über Discounter (Ausnahme: ein eng begrenztes Nachhaltigkeitsprojekt mit Penny). Das kostet in schlechten Zeiten Ertrag – und zahlt in guten Zeiten in die Preismacht ein.
Als der Markt vor einigen Jahren überlief, verkaufte die Molkerei überschüssige Milch mit Verlust am Spotmarkt, statt sie ins Billigregal zu drücken. Kurzfristig tat das weh. Langfristig stabilisierte es die Marke – und die Beziehungen zu Handelspartnern.
Produktpolitik: lieber schmal und sauber als breit und billig
150 Produkte sind genug – von Butter und Topfen (Quark) bis zum Latte macchiato. Kein „Milchgetränk ohne Milch“, kein Erdbeerjoghurt ohne Erdbeeren. Und vor allem: keine Hafermilch aus Piding. „Hat nichts mit Milch zu tun“, sagt Pointner – und trifft damit einen Nerv. „Spießig-konservativ“ nennt er das. Für die Marke bedeutet es: klare Kante, klare Erwartung, klare Preispunkte.
Kostenbremse durch Kultur, nicht durch Zutatenlisten
Wer hoch fährt (wortwörtlich), zahlt drauf: Die Milcherfassung in den Alpen ist etwa doppelt so teuer wie im Flachland. Gegensteuern lässt sich durch drei Hebel: Prozessinvestitionen (neue Molkerei), Preispremium (Marke) und Vertrauen (Planbarkeit für Bauern, Berechenbarkeit für Handel, Ehrlichkeit für Konsumenten).
Der Verzicht auf „Stretch-Zutaten“ reduziert zwar vermeintliche Effizienz, vermeidet aber das größte Risiko moderner Foodmarken: Glaubwürdigkeitsverlust.
Die Bauern als beste Vertriebsorganisation
Die Mitglieder sind Lieferanten, Eigentümer – und Markenbotschafter. Ferienwohnungen mit Produkten im Kühlschrank, Hofbesuche, geführte Wanderungen („Da Kuah auf da Spur“), eine „Erlebniswelt“ nach Automobil-Vorbild, in der Schulklassen Sensorik und Handwerk lernen: All das schafft Nähe und erklärt, warum ein Liter mehr kostet.
Gleichzeitig rüstet die Molkerei kommunikativ auf – vom Film zu Wolfsrissen bis zu Schulungen über Tierwohl. Wer Fragen antizipiert, muss Krisen nicht reaktiv beantworten.
Als 2023 die Nachfrage einbrach, kürzten andere Molkereien die Auszahlungspreise. Berchtesgadener Land hielt das Milchgeld stabil und sparte lieber selbst. Umgekehrt gab es keine Preisspitzen Richtung Verbraucher, als Butterpreise durch die Decke gingen.
Diese Asymmetrie – Verluste intern, Zugewinne maßvoll – kostet Marge, baut aber ein Asset auf, das in keiner Bilanz steht: beidseitige Loyalität. Ergebnis: Warteliste für neue Mitglieder – sogar jenseits der Grenze; rund 15 % der Höfe liegen in Tirol, weitere Regionen schließen sich an.
Die Schattenseite: Strukturwandel frisst Zulieferbasis
Trotz Warteliste verlor die Genossenschaft rund 300 Mitglieder durch Hofaufgaben. Früher übernahm der Nachbar; heute konkurrieren Investorengelder um Flächen – oft mit dem Ziel „Ferienimmobilie statt Futterwiese“. Das schmälert langfristig die Rohmilchbasis. Die Antwort der Molkerei: Diversifikation der Herkunft (Österreich), ohne die Markenlogik („Bergbauern“) zu verwässern.
Energie, Zölle, Auflagen: die exogenen Risiken
Milchverarbeitung frisst Energie – Erhitzen, Kühlen, Trocknen. Steigende Energiepreise, härtere Hygiene- und Haltungsauflagen, Verpackungsregeln: alles Kostentreiber, die man als regionale Molkerei nicht einfach wegverhandelt. Zum Schutz dienen Effizienzinvestitionen und – unpopulär, aber ehrlich – Preiskommunikation. Wer erklärt, warum der Liter mehr kostet, bekommt Zustimmung; wer trickst, verliert sie.
Warum das Modell gegen Aldi und Müller funktioniert
Berchtesgadener Land macht nicht „teurer“, sondern anders:
Aldi und Müllermilch optimieren die Wertschöpfungskette rückwärts – Ziel: Volumen, Frequenz, Regalanteil. Piding optimiert vorwärts: Glaubwürdigkeit, Loyalität, Preispunkt. Das sind zwei verschiedene Spiele. Und sie können parallel erfolgreich sein – solange jeder bei seinem bleibt.
Lektion für die Lebensmittelwirtschaft
Die Case-Study Piding zeigt drei übertragbare Thesen:
Preis ist Kommunikation: Wer erklärt, erhöht; wer versteckt, verliert.
Regionalität skaliert über Erlebnisse: Tourismus, Bildung, Hofnähe – günstiger als TV-Werbung, wirksamer als Influencer-Kampagne.
Mut zur Lücke – und zur Linie
Berchtesgadener Land beweist, dass man ein System schlagen kann, ohne es zu kopieren. Die Genossenschaft zahlt ihren Bauern solide, investiert dreistellig, lässt die Discounter links liegen – und wächst. Nicht schnell, aber stetig. Nicht billig, aber plausibel.
Wer wissen will, wie sich Mittelstand gegen Marktmacht behauptet, findet die Antwort auf einem kleinen grünen Tetra Pak: weniger Zutaten, mehr Haltung. In einer Branche, die häufig am Limit kalkuliert, ist das der eigentliche Gamechanger. Nicht laut, nicht modisch – sondern spießig-konservativ. Und gerade deshalb zukunftsfest.