Die Ruhe vor dem Sturm
Der Auftritt des JPMorgan-Vorstandschefs Jamie Dimon beim diesjährigen Investorentag war alles andere als routiniert. Inmitten rekordnaher Kurse und scheinbar unerschütterlicher Optimistenstimmung zeichnete Dimon ein anderes Bild – eines, das an 2007 erinnert.
„Der Markt ist um zehn Prozent gefallen und dann wieder um zehn Prozent gestiegen. Ich halte das für ein außergewöhnliches Maß an Selbstgefälligkeit“, sagte Dimon laut MarketWatch.
In seiner Stimme lag keine Panik – aber Ernst. Und Dringlichkeit.
Die Märkte, so sein Befund, reagierten nicht mehr angemessen auf reale Bedrohungen. Ob geopolitische Spannungen, neue Zollschübe oder der Verlust der US-Topbonität – kaum ein Ereignis bringt die Kurse noch zum Wackeln. Eine gefährliche Konditionierung sei entstanden: „Die Leute glauben, dass Zentralbanken alles regeln werden. Ich nicht“, sagte Dimon laut The Guardian.
Zölle, Schulden und eine taumelnde Weltordnung
Tatsächlich wirft ein Blick auf die USA Grund zur Sorge auf. Die von der Trump-Regierung verhängten neuen Zölle – zehn Prozent Basiszoll auf zahlreiche Importgüter – seien selbst in dieser Form bereits „ziemlich extrem“, warnte Dimon.
Auch wenn einige Maßnahmen inzwischen abgeschwächt oder aufgeschoben wurden, bleibe die wirtschaftliche Unsicherheit hoch. Was ausländische Reaktionen angeht, sei „nicht vorhersehbar, wie jedes Land reagieren wird“.
Mehr noch: Die strukturellen Probleme wachsen. „Wir haben riesige Defizite“, mahnte Dimon – eine Anspielung auf die weiterhin stark steigende US-Staatsverschuldung. In Kombination mit steigenden Zinsen und einer Zentralbank, die sich laut Dimon selbstgefällig auf vergangene Modelle verlasse, ergebe sich eine gefährliche Gemengelage.

Stagflation statt Goldilocks?
Ein Begriff, den Dimon mehrfach wiederholte, lässt aufhorchen: Stagflation. Ein Szenario, das die meisten Marktteilnehmer bislang als unwahrscheinlich abtun – und genau darin liegt laut dem JPMorgan-Chef das Problem.
Die Wahrscheinlichkeit, dass sich stagnierendes Wachstum mit anhaltend hoher Inflation paare, sei „wahrscheinlich doppelt so hoch“, wie es derzeit eingepreist werde.
Seine Warnung wird von anderen Marktteilnehmern geteilt. Jonathan Krinsky von BTIG beobachtet ebenfalls „gefährliche Sorglosigkeit“. Die Put/Call-Ratios, ein Maß für die Absicherungsneigung im Optionsmarkt, seien auf Fünfjahrestiefs gefallen.
Eine Entwicklung, die an klassische Überhitzungsphasen erinnert. „Obwohl es sinnlos erscheint, gegen den jüngsten Aufwärtstrend anzukämpfen, deuten enge Spannen und extreme Put/Call-Verhältnisse auf Selbstzufriedenheit hin“, so Krinsky.
Der Vertrauensschock
Nigel Green, CEO der britischen deVere Group, diagnostiziert „vorsätzliche Blindheit“ bei vielen Investoren. Die Erinnerung an die Rallys von 2023 und 2024 verleite viele dazu, Risiken als Rauschen abzutun.
„Aber die makroökonomischen Bedingungen haben sich grundlegend verändert. Lieferketten sind zersplittert, die Energiemärkte unruhig, Reallöhne sinken“, warnt Green.
Auch Citigroup-Chefin Jane Fraser bläst in dasselbe Horn. In einem Blogeintrag formulierte sie: „Die Unsicherheit bleibt. Unternehmen verschieben Investitionen, stellen weniger ein, bereiten sich auf Zweit- und Drittrundeneffekte vor.“ Was sie beschreibt, ist keine punktuelle Störung – sondern ein Umbruch. „Wir treten in eine neue Phase der Globalisierung ein – eine, die weniger von Kooperation als von strategischem Eigeninteresse geprägt ist.“
Fraser sieht die Weltwirtschaft an einem Kipppunkt. „Lange vertretene Annahmen werden in Frage gestellt – nicht nur durch Zölle, sondern durch einen tieferen Vertrauensschock.“ Besonders brisant: Dieser Umbruch sei bereits sichtbar – doch an den Märkten offenbar kaum mehr spürbar.
Ein ignorierter Realitätscheck
Es ist eine paradoxe Situation: Die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind so fragil wie seit Jahren nicht. Doch an den Börsen herrscht Partystimmung.
Der S&P 500 und der NASDAQ notieren nahe Allzeithochs, obwohl sich das Fundament sichtbar bröckelt. Vielleicht ist genau das der Punkt, den Dimon, Green, Fraser und Krinsky eint: Die Angst vor einem kollektiven Realitätsverlust.
Denn in der Geschichte der Finanzmärkte war es nie der erste Schock, der alles zum Einsturz brachte – sondern die Sorglosigkeit davor. Dimon bringt es auf den Punkt: „Wenn ich all diese Dinge sehe, die sich am Rande des Extremen anhäufen, glaube ich nicht, dass wir das Ergebnis vorhersagen können.“
Doch eines scheint sicher: Wer heute Risiken ignoriert, könnte morgen im Rückspiegel erkennen, wie deutlich die Signale eigentlich waren.
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