Siemens steigt mit einem historischen Gewinn in die nächste Umbauphase ein – und trotzdem sinkt der Aktienkurs. Kaum hatte CEO Roland Busch die Gesamtjahreszahlen präsentiert und die Wachstumsziele angehoben, fiel die Aktie am Donnerstagmorgen um bis zu vier Prozent. Ein überraschend nüchterner Empfang, wenn man bedenkt, wie ambitioniert der Konzern seine Zukunft neu ausrichtet.

Der Rekordgewinn – und was dahintersteckt
10,4 Milliarden Euro Gewinn nach Steuern, ein Umsatzplus von fünf Prozent, ein operatives Ergebnis von 11,8 Milliarden Euro: Siemens liefert zum dritten Mal in Folge Bestmarken ab. Busch hob hervor, dass die operative Marge seit 2021 kontinuierlich gestiegen sei – ein Zeichen, dass Kostenstrukturen, Portfolio und Innovationstempo inzwischen sauber ineinandergreifen.
Doch hinter den glänzenden Zahlen stehen offene Baustellen. Vor allem die Sparte Digital Industries (DI), zuständig für Automatisierungstechnik und industrielle Software, schwächelt. Die Erlöse gingen um vier Prozent zurück, die Marge rutschte deutlich ab. Ein Warnsignal – ausgerechnet in dem Bereich, der künftig das Herzstück des Konzerns sein soll.
Ein historischer Schritt: Siemens gibt Healthineers-Mehrheit ab
Was am Vorabend verkündet wurde, ist nichts weniger als ein Bruch mit über 100 Jahren Medizintechnik-Geschichte. Siemens zieht sich stufenweise aus seiner Beteiligung an Healthineers zurück:
- 30 Prozent der Anteile gehen direkt an die eigenen Aktionäre,
- die restlichen 36 Prozent sollen mittelfristig veräußert werden.
Damit konsolidiert Siemens die Sparte nicht mehr – ein tiefgreifender Einschnitt. Der Konzern schrumpft auf dem Papier, erweitert gleichzeitig aber seinen strategischen Spielraum. Investoren begrüßen den Schritt, denn der Kapitalbedarf war hoch, die Synergien gering.
Union-Investment-Managerin Maria Mihaylova bringt es auf den Punkt: Die Entkonsolidierung schaffe Klarheit und ermögliche Siemens, die industriellen Kerngeschäfte aggressiver auszubauen.

„One Tech Company“ – endlich konkrete Ziele
Seit einem Jahr spricht Busch von seiner „One Tech Company“. Nun legt er Zahlen vor – und sie sind ambitioniert:
- Umsatzwachstum jährlich 6–9 % statt bisher 5–7 %,
- Verdoppelung des Digitalgeschäfts bis 2030 (von 9,4 Mrd. Euro auf rund 19 Mrd.),
- EPS-Wachstum im hohen einstelligen Prozentbereich,
- zentralisierte Software-Entwicklung,
- einheitliche Vertriebsstrukturen für Großkunden.
Busch will Prozesse bündeln, Innovationen beschleunigen und die Silos zwischen den Bereichen aufbrechen. Der Konzern soll sich wie ein einziger Technologieanbieter präsentieren – nicht wie eine Sammlung von Sparten, die nebeneinander arbeiten.
Bemerkenswert ist, dass der Umbau diesmal nicht von einer radikalen Zerschlagung begleitet wird. Kein Spin-off, kein aggressives Kostenschneideprogramm. Busch will unter der Oberfläche umbauen, nicht die Struktur sprengen. Ein Ansatz, der stabil wirkt – aber an der Börse weniger spektakulär aufgenommen wird.
Partnerschaften statt Perfektionismus
Busch hat früh erkannt, dass Siemens im Zeitalter von KI und Cloud nicht alles selbst entwickeln kann. Die jüngsten Allianzen sprechen eine klare Sprache:
- Kooperation mit AWS für Industrie-Cloudlösungen,
- Technologiepartnerschaft mit Nvidia für KI in der Fabrikautomation,
- Projekte mit deutschen Mittelständlern, um Software und Produktion enger zu verzahnen.
Dass Nvidia-Chef Jensen Huang per Videobotschaft den Siemens-Ansatz lobt und von einer „neuen industriellen Revolution“ spricht, ist kein PR-Gag – es zeigt, wie eng die Innovationspfade zusammenlaufen.
Warum die Börse trotzdem enttäuscht ist
Die Zahlen sind gut, die Strategie klar – und dennoch fällt die Aktie. Drei Gründe erläutern, warum:
- Viele Erwartungen waren bereits eingepreist.
Der Kurs hatte kurz zuvor ein Rekordhoch von 250 Euro erreicht. Die Märkte hatten den Healthineers-Schritt erwartet – und auch eine ambitionierte Wachstumsagenda. - Der Umbau ist weniger radikal als gedacht.
Busch hält die Struktur zusammen, statt sie aufzubrechen. Für manche Investoren klang das zu behutsam. - Die Schwäche bei Digital Industries drückt auf die Stimmung.
Gerade im wichtigsten Zukunftssegment hätte die Börse mehr Signale erwartet, wie Siemens den neuen Wettbewerb aus China kontern will.
Die große offene Frage: Gelingt der DI-Umbau?
Die Zahlen aus China zeigen ein gemischtes Bild:
- Die Auftragseingänge ziehen stark an – teilweise um 80 Prozent –,
- aber Innovationstempo und Produktattraktivität wurden zuletzt kritisiert.
Vor allem die Maschinensteuerungen der Simatic-Familie benötigen ein Upgrade, um im globalen Wettbewerb bestehen zu können. Die Themen KI und Industrial Metaverse sind vielversprechende Felder – aber bislang eher Vision als Umsatztreiber.
Die Konkurrenz schläft nicht: Rockwell Automation meldet steigende Gewinne und zweistellige Zuwächse im Schlussquartal.
Ein Konzern im Gleichgewicht – und im Wettlauf mit der Zeit
Siemens steht solide da, aber nicht unverwundbar. Der Rekordgewinn schafft Spielräume, die Entkonsolidierung von Healthineers schafft Klarheit, und die neue Strategie schafft Tempo. Doch entscheidend wird sein, ob die Digitalisierung der Industrie schnell genug vorankommt – und ob Siemens seinen technologischen Vorsprung halten kann.
Denn die Märkte haben Siemens nicht abgestraft. Sie haben nur signalisiert:
Zeigt uns, dass das neue Siemens funktioniert.


