Es ist ein Zahlenwerk, das in Berlin und in vielen Rathäusern die Alarmglocken schrillen lässt: 629. So viele Anträge hat die Deutsche Post stellen lassen, um Automaten – sogenannte Poststationen – offiziell als Postfilialen anerkennen zu lassen. 72 Standorte sind bereits genehmigt, der Rest hängt in der Prüfungsschleife der Bundesnetzagentur.
Damit rückt ein Szenario näher, das noch vor wenigen Jahren unvorstellbar war: Filialen ohne Personal, ohne Schalter, ohne Begegnung – dafür mit Touchscreen, Paketklappen und Videoberatung.
Automaten statt Menschen
Die Strategie der Post folgt einer einfachen Logik: Wenn man keine Partner mehr findet, stellt man Technik hin.
In vielen Dörfern gibt es keinen Kiosk, keinen Getränkemarkt, keinen Supermarkt mehr, der Platz für einen Postschalter hätte. Allein diese Partnerschaftsfilialen machen heute den Großteil des Netzes aus. Bricht diese Struktur weg, fehlen Standorte – und damit erfüllt die Post ihre gesetzliche Pflicht nicht.
Die Lösung: Automaten, die alles können sollen – Paketannahme, Paketausgabe, Briefmarkenverkauf, Einwurf von Briefen, sogar Videoberatung. 24 Stunden geöffnet, sieben Tage die Woche. Kostenloses Parken vor dem Container inklusive.
Was wie Fortschritt klingt, ist vor allem eines: ein kalkulierter Ausstieg aus dem bisherigen Filialmodell.

Gesetzliche Hintertür geöffnet
Die Post muss in jedem Ort mit mehr als 2.000 Einwohnern eine Filiale vorhalten. Bisher galt: Eine Filiale ist ein Ort, wo Menschen arbeiten.
Seit Januar ist diese Definition aufgeweicht. Ein Automat kann nun offiziell als Filiale zählen.
Das schafft Spielraum – und der wird genutzt. Wenn alle Anträge durchgehen, bestünden rund fünf Prozent des gesamten Filialnetzes aus Automaten. An jedem zwanzigsten Standort gäbe es keinen Schalter mehr, keinen Menschen, nur noch ein Display.
Die Diskrepanz ist offensichtlich: Obwohl Automaten nun angerechnet werden, steigt die Zahl der unbesetzten Pflichtstandorte. Ende September waren es 160. Mehr als vor der Gesetzesänderung.
„Kein Massenphänomen“ – sagen Politiker
Die politische Reaktion schwankt zwischen Pragmatismus und Sorge.
Sebastian Roloff (SPD), Bundestagsabgeordneter, findet klare Worte: Automaten seien „besser als nichts“. Aber maximal jeder zwanzigste Standort – nicht jeder dritte.
Noch deutlicher der Deutsche Landkreistag:
Postfilialen seien „Einrichtungen der Daseinsvorsorge“. Ein Automat biete keine Nutzerfreundlichkeit, sondern das Risiko, sich aus der Fläche zurückzuziehen.
Die Schwächsten bleiben zurück
Besonders laut ist die Kritik aus der Sozialpolitik.
Der Sozialverband VdK weist auf die Realität hin, die in PowerPoint-Präsentationen selten vorkommt:
- Automaten sind für Rollstuhlfahrer oft zu hoch,
- für sehbeeinträchtigte Menschen kaum bedienbar,
- für Senioren schlicht überfordernd.
Die Präsidentin des VdK, Verena Bentele, nennt das, was passiert, einen „Rückschritt bei der Inklusion“.

Service ersetzt – oder abgebaut?
Die Post argumentiert mit Verlässlichkeit: Automaten seien immer geöffnet, nie krank, nie im Urlaub.
Doch hinter der Effizienz steckt auch ein betriebswirtschaftlicher Entlastungseffekt. Interimsschalter, die derzeit in Containern oder leeren Ladenflächen betrieben werden, kosten Personal – und genau diese Filialen möchte die Post „loswerden“.
Der Endpunkt einer Entwicklung
Was wir gerade erleben, ist kein kurzfristiger Umbau. Es ist ein Systemwechsel.
- Postfilialen werden digitalisiert.
- Service wird automatisiert.
- Verantwortung wird verlagert.
Private Unternehmen übernehmen Daseinsvorsorge – aber nicht aus Gemeinwohlinteresse, sondern unter Kostendruck eines globalen Konzerns.
Am Ende geht es um Vertrauen
Automaten können Pakete ausgeben.
Automaten können Briefe schlucken.
Aber Automaten können kein Vertrauen ersetzen.
Wenn in der Fläche der letzte Ankerpunkt verschwindet, verschwindet ein Stück Infrastruktur, das über Jahrzehnte selbstverständlich war. Eine Filiale war nicht nur ein Ort, um Briefmarken zu kaufen. Sie war ein Stück Gesellschaft.
Die Post nennt es Modernisierung.
Viele Bürger nennen es Rückzug.
Es liegt jetzt an der Bundesnetzagentur, jede einzelne Entscheidung zu prüfen – nicht nur technisch, sondern gesellschaftlich.
Denn manchmal entscheidet nicht der Touchscreen über die Zukunft eines Orts, sondern der Mensch am Schalter.



