Deutschland steuert auf einen massiven Engpass im Pflegesektor zu – und die Lösung liegt längst nicht mehr im Inland. Schon heute stammen fast alle neuen Pflegekräfte aus dem Ausland.
Ihr Anteil an den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten hat sich binnen zehn Jahren von sechs auf knapp 16 Prozent fast verdreifacht. Ohne philippinische, kolumbianische oder usbekische Fachkräfte wäre die Versorgung in vielen Kliniken kaum noch aufrechtzuerhalten.
Doch immer mehr von ihnen denken ans Aufhören – und das nicht wegen der Arbeit am Patienten, sondern wegen des Systems.
Wenn das Nettogehalt nicht reicht
Auf dem Papier sind die Gehälter in der Pflege gestiegen: Vollzeitkräfte verdienen im Schnitt 3.870 Euro brutto im Monat, Fachkräfte deutlich mehr. Trotzdem sagen fast die Hälfte der angeworbenen Zuwanderer, dass sie mit ihrem Einkommen nicht auskommen. Der Grund: Deutschlands Steuer- und Abgabenlast. Für viele Neuankömmlinge ist der Schock groß, wenn sie nach der ersten Abrechnung feststellen, dass von ihrem Bruttogehalt kaum mehr als die Hälfte bleibt.

Zusätzliche Belastungen wie hohe Nebenkosten oder der Rundfunkbeitrag, der in vielen Herkunftsländern unbekannt ist, verschärfen die Situation. Mehr als ein Viertel der Befragten berichtet von unerwarteten Rechnungen, die sie überforderten. Hinzu kommt: Viele schicken regelmäßig mehrere Hundert Euro nach Hause. Das lässt vom deutschen Lohn oft nicht viel übrig.

Zwischen Sprachbarriere und Rassismus
Noch schwerer wiegt ein anderes Problem: Fast die Hälfte der ausländischen Pflegekräfte berichtet von Diskriminierungserfahrungen am Arbeitsplatz. 40 Prozent fühlen sich im Team nicht als gleichwertig anerkannt. Selbst ihre akademische Ausbildung – etwa auf den Philippinen, wo Pflege ein Hochschulfach ist – wird in Deutschland oft nicht oder nur teilweise angerechnet. Für viele bedeutet das einen emotionalen und beruflichen Rückschritt.
Zwar verfügen die meisten über ein B2-Sprachzertifikat, doch im Stationsalltag reicht das oft nicht aus. 40 Prozent kämpfen weiterhin mit sprachlichen Hürden. Und selbst wenn die Fachkräfte willens sind: Nur gut die Hälfte erlebt ein Kollegium, das auf ihre Ankunft vorbereitet ist. Der Rest berichtet von Ungeduld, Misstrauen und fehlender Unterstützung.

Teure Rekrutierung, wenig Bindung
Für Kliniken ist das ein Desaster. Die Anwerbung im Ausland verschlingt enorme Summen – von Sprachkursen bis zu Vermittlungsgebühren. Doch was bringt es, wenn ein Teil der Fachkräfte nach wenigen Jahren wieder geht? Schon heute plant nur etwa ein Drittel der Befragten, dauerhaft in Deutschland zu bleiben. Viele sprechen offen davon, sich in andere Länder zu orientieren, die ihnen mehr Anerkennung und weniger Bürokratie bieten.
Was Kliniken ändern müssten
Die Empfehlungen liegen auf der Hand – doch ihre Umsetzung bleibt Stückwerk. Wer Pflegekräfte wirklich halten will, muss ihnen mehr geben als Arbeitsverträge und einmalige Integrationskurse:
- Transparenz bei Gehältern und Kosten: Musterabrechnungen, Infos zu Abgaben und realistische Kalkulationen der Lebenshaltungskosten können finanzielle Schocks vermeiden.
- Soziale Integration: Virtuelle Team-Meetings vor der Ankunft, Tandemmodelle mit Kolleginnen vor Ort und gezielte Einarbeitungspläne würden den Einstieg erleichtern.
- Sprache als Daueraufgabe: Berufsspezifische Kurse statt Einmalzertifikate sind entscheidend für Selbstbewusstsein und Teamarbeit.
- Anerkennung von Qualifikationen: Eine schnellere und fairere Bewertung ausländischer Abschlüsse würde nicht nur Wertschätzung zeigen, sondern auch Karrieren ermöglichen.
Ein Wettlauf mit der Zeit
Die Pflege in Deutschland steht damit an einem Scheideweg: Gelingt es, ausländische Fachkräfte nicht nur zu gewinnen, sondern auch zu halten? Oder verliert das Land genau die Menschen, die es in den kommenden Jahren am dringendsten braucht? Der demografische Wandel läuft weiter – die Babyboomer gehen in Rente, der Bedarf explodiert.
Die Antwort darauf entscheidet nicht nur über den Zustand der Kliniken, sondern über die Stabilität des gesamten Sozialstaats.
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