Stillstand made in Den Haag
Kaum hatte sich die Autoindustrie vom Halbleiterschock 2021 erholt, steht sie erneut am Rand einer Krise. Auslöser ist diesmal nicht eine Naturkatastrophe oder Pandemie, sondern ein diplomatischer Dominoeffekt: Nachdem die niederländische Regierung die Kontrolle über Nexperia übernommen hatte – wegen Sicherheitsbedenken gegen den chinesischen Mutterkonzern Wingtech –, reagierte Peking prompt. China stoppte den Export von Nexperia-Chips, einem zentralen Bestandteil für Fahrzeugsteuerungen.
Was wie ein Verwaltungsakt in Den Haag klingt, hat potenziell gewaltige Folgen für die europäische Industrie. Nexperia ist Marktführer für einfache Halbleiter, die in Steuergeräten, Spannungsreglern oder Batteriemanagementsystemen stecken. 40 Prozent Weltmarktanteil, Millionen Bauteile pro Woche – und plötzlich Stillstand.
Ein politischer Schritt mit industrieller Sprengkraft
Dass die niederländische Regierung ausgerechnet in einem geopolitischen Spannungsfeld zwischen den USA und China eingreift, irritiert nicht nur Ökonomen. Washington hatte Wingtech schon länger im Visier, Peking reagierte reflexartig. Leidtragende: die europäischen Hersteller.
„Die Nexperia-Krise ist ausschließlich durch politisches Handeln mit Durchgriff bis zur Unternehmensebene ausgelöst worden“, sagt Klaus Schmitz von der Unternehmensberatung Arthur D. Little. Der Schaden trifft nun jene Branche, die ohnehin zwischen Transformation, Klimazielen und Kostendruck zerrieben wird.
Bänder in Gefahr – und ein „Katz-und-Maus-Spiel“ um Teile
In Wolfsburg, Stuttgart und München schrillen die Alarmglocken. Volkswagen hat bereits Mitarbeiter über drohende Produktionsstopps informiert. Der VDA spricht von möglichen Einschränkungen in den kommenden Wochen. Zulieferer wie ZF haben Taskforces gebildet, um alternative Bezugsquellen zu finden – doch die sind rar.

„Es wird fieberhaft nach anderen Lieferanten gesucht“, sagt Autoexperte Ferdinand Dudenhöffer. „Aber die können keine Kapazitäten aus dem Boden stampfen. Im schlimmsten Fall zieht sich das über 12 bis 18 Monate.“ Hinter den Kulissen herrscht hektische Improvisation: Ersatzlieferungen aus Lagerbeständen, Umverteilung von Kontingenten, Kooperationen zwischen Wettbewerbern. Ein Zulieferer spricht von einem täglichen „Katz-und-Maus-Spiel“, um an die nötigen Chips zu kommen.
Wiederholung eines alten Fehlers
Die Autoindustrie hatte nach der Chipkrise von 2021 versprochen, ihre Lieferketten robuster zu machen – mit größeren Zwischenlagern und mehr Zulieferern pro Komponente. Doch diesmal trifft es ausgerechnet die billigsten, unscheinbarsten Teile: einfache Dioden und Spannungsregler, Centartikel ohne Backup.
„Ein Lager für B- und C-Klasse-Halbleiter ist wirtschaftlich kaum sinnvoll“, erklärt Dudenhöffer. „Das sind Massenprodukte, die man nicht auf Vorrat stapelt.“
Die Branche hat aus der letzten Krise gelernt – aber nur dort, wo es sich rechnete. Nun zeigt sich: Politische Krisen lassen sich nicht mit Logistiklösungen absichern.
Wenn Politik zur größten Störgröße wird
Das Dilemma reicht weit über die Autoindustrie hinaus. Auch Haushaltsgerätehersteller, Luftfahrt- und Rüstungsunternehmen sind betroffen. Ohne einfache Halbleiter funktionieren keine Steuerungen, keine Sensoren, keine Maschinen.

Die Bundesregierung versucht zu vermitteln. Staatssekretär Frank Wetzel lud Vertreter der Auto- und Elektronikindustrie zu Krisengesprächen ein. Wirtschaftsminister Robert Habeck betonte, man sei „in engem Austausch mit den niederländischen und chinesischen Partnern“. Doch der Handlungsspielraum ist begrenzt – denn die Ursache liegt nicht im Markt, sondern in der Politik.
Europas neue Abhängigkeit
Mit jedem geopolitischen Konflikt zeigt sich die strategische Schwäche der europäischen Industrie: ihre Abhängigkeit von außereuropäischen Lieferketten. Nexperia produziert in Europa – aber das Kapital, die Kontrolle und die strategische Macht liegen längst außerhalb des Kontinents.
Europa hat sich vorgenommen, bis 2030 ein Fünftel der weltweiten Chipproduktion zu stemmen. Doch die Realität zeigt, wie weit dieses Ziel entfernt ist. Wenn selbst eine Fabrik im eigenen Binnenmarkt zum Spielball internationaler Interessen wird, hilft auch die schönste Chipstrategie nichts.
Der Preis der Unabhängigkeit
Was als Sicherheitsmaßnahme begann, droht nun zum industriepolitischen Eigentor zu werden. Die Autoindustrie steht wieder vor der gleichen Frage wie vor vier Jahren: Wie kann sie eine Produktion sichern, die auf Lieferketten basiert, die sie nicht kontrolliert?
Kurzfristig helfen nur Pragmatismus und politische Diplomatie. Langfristig wird Europa die Produktionsbasis selbst aufbauen müssen – oder immer wieder erleben, dass außenpolitische Entscheidungen zu innenwirtschaftlichen Krisen führen.


