Wenn die Apotheke nur noch mit den Schultern zuckt
Ein Kind mit Fieber, die Eltern stehen in der Apotheke – doch das Antibiotikum ist „nicht lieferbar“. Ein Satz, der längst zum Alltag gehört. Nach Angaben der Apothekerverbände sind rund 500 Medikamente derzeit von Engpässen betroffen, darunter vor allem Kinderarzneien und Atemwegsmittel.
„Auch in diesen Winter gehen wir schlecht vorbereitet“, warnt Thomas Preis, Präsident des Apothekerverbands Nordrhein.
Die Warnung klingt fast schon routiniert – denn das Problem ist nicht neu. Doch die Häufung und Dauer der Engpässe zeigen, dass es sich nicht um Einzelfälle handelt, sondern um ein strukturelles Versagen.
Der Preis des Preisdrucks
Hinter den leeren Regalen steht ein Markt, der sich selbst in die Sackgasse gespart hat. Seit Jahren drücken Krankenkassen mit Rabattverträgen die Preise auf generische Arzneimittel. Hersteller, die diese Verträge gewinnen wollen, müssen immer günstiger produzieren – häufig am Rand der Rentabilität.
Das Ergebnis: Die Produktion wandert dorthin, wo sie am billigsten ist – nach China und Indien. Dort werden inzwischen die meisten Wirkstoffe für deutsche Medikamente hergestellt. Kommt es zu Qualitätsproblemen, Exportstopps oder Engpässen in den Fabriken, stehen in Europa die Bänder still.
Eine aktuelle Studie des Branchenverbands Pro Generika zeigt, wie gefährlich diese Abhängigkeit ist: Schon ein kurzfristiger Lieferstopp für einzelne Wirkstoffe könnte ganze Therapiegruppen lahmlegen. „Die Versorgungssicherheit hängt von wenigen Lieferketten ab – das ist ein enormes Risiko“, warnt der Verband.
Made in China – auch für die Hausapotheke
Der ökonomische Mechanismus dahinter ist simpel – und fatal. Viele gängige Medikamente, etwa Antibiotika, bringen den Herstellern in Deutschland kaum mehr als ein paar Cent pro Packung. „In manchen Fällen müssen die Produzenten sogar draufzahlen“, heißt es aus Industriekreisen.

Das macht Europa zunehmend abhängig von wenigen asiatischen Produzenten. Rund 80 Prozent der weltweit genutzten Wirkstoffe stammen inzwischen aus Asien. Eine Zahl, die verdeutlicht, wie eng die Spielräume geworden sind.
Doch der Preisdruck allein erklärt nicht alles. Systemische Ineffizienz spielt ebenfalls eine Rolle – und zwar im eigenen Land.
„Das Medikament ist da – nur nicht dort, wo es gebraucht wird“
So bringt es Olaf Heinrich, Chef des Online-Händlers Redcare Pharmacy (Betreiber der Shop Apotheke), auf den Punkt: „Oft sind Medikamente sehr wohl in Deutschland vorhanden – nur eben nicht da, wo sie gebraucht werden.“
Das deutsche Arzneimittellogistik-System ist komplex: Rund 100 Großhandelsstandorte, etwa 17.000 Apotheken und vier dominante Player – Phoenix, Sanacorp, Alliance Health und Noweda – teilen sich den Markt. Jeder hat eigene Lager, Bestände und Lieferketten.
Heinrich kritisiert, dass diese Struktur zu Verzögerungen und Fehlverteilungen führt. Sein eigenes Modell mit einem zentralen Großlager in den Niederlanden sei effizienter und transparenter. „Bei uns ist die Lieferverfügbarkeit besser, weil wir alles an einem Ort bündeln.“
Der Großhandel wehrt sich
Die Branche weist die Kritik zurück. Der Bundesverband Phagro, der die Großhändler vertritt, sieht in der dezentralen Struktur einen Vorteil: „Das dichte Netz garantiert, dass Apotheken mehrfach täglich beliefert werden können“, erklärt der Verband. Auch bei Engpässen könne man durch bundesweite Verbundlieferungen innerhalb von 24 Stunden nachsteuern.
Tatsächlich sind viele Großhändler besser aufgestellt, als es die öffentliche Wahrnehmung vermuten lässt. In der Pandemie etwa hatten sie zusätzliche Vorräte für Kinderarzneien aufgebaut – teilweise über das gesetzlich geforderte Maß hinaus. Das Problem ist also nicht fehlende Infrastruktur, sondern mangelnde Koordination.
Wenn das System an sich selbst scheitert
„Das System ist träge, überreguliert und verteilt die Verantwortung auf zu viele Schultern“, sagt Ulrich Zander, Geschäftsführer der auf Apotheken spezialisierten Beratung Sempora Consulting.

Apotheken könnten zwar über den Großhandel oder direkt beim Hersteller bevorraten, doch kleinere Betriebe hätten kaum die Einkaufsmacht, um bei Knappheit zu konkurrieren.
„Wer groß ist, bekommt auch das knappe Medikament“, so Zander.
Das gilt für Ketten wie Redcare ebenso wie für gut vernetzte Vor-Ort-Apotheken.
Damit offenbart sich ein Paradoxon: Ein hochentwickeltes Gesundheitssystem, das in der Lage ist, komplexe Krebstherapien oder mRNA-Impfstoffe zu liefern, scheitert am Fiebersaft für Kinder.
Politik zwischen Symbolik und Realität
Zwar hat der Bundestag bereits 2023 das sogenannte Lieferengpass-Gesetz verabschiedet. Es sollte Anreize für mehr Produktion in Europa schaffen und Mindestmargen garantieren. Doch von einem Durchbruch ist keine Rede.
Weder hat sich die Produktion nennenswert nach Europa verlagert, noch wurden die Abhängigkeiten reduziert. Der politische Wille ist da – aber die ökonomischen Anreize fehlen. Solange Generika zu Dumpingpreisen angeboten werden, bleibt die europäische Fertigung ein Zuschussgeschäft.
Die Apothekerverbände fordern deshalb eine grundlegende Neuordnung der Rabattverträge. „Wenn die Produktion von lebenswichtigen Medikamenten in Deutschland nicht mehr wirtschaftlich ist, dann läuft etwas schief“, sagt Preis.
Zwischen Marktwirtschaft und Moral
Das Dilemma bleibt: Medikamente sind keine Luxusgüter, sondern lebensnotwendige Güter – doch sie werden in einem System gehandelt, das sie wie Massenware behandelt.
Wenn alles auf Effizienz und Kostendruck optimiert wird, bleibt kein Puffer für Störungen. Die Pandemie, geopolitische Spannungen und Handelsrisiken haben das System entblößt – und gezeigt, wie wenig Resilienz darin steckt.
Das deutsche Gesundheitssystem steht damit vor einer unbequemen Frage: Was ist uns Versorgungssicherheit wert?
