Eine Akte wie ein Telefonbuch
Es war ein Fall, der die Behörden über Jahre beschäftigte – und die Bevölkerung verunsicherte. Eine 20-köpfige syrische Familie, zwischen 2015 und 2020 nach Deutschland eingereist, fiel immer wieder durch schwere Straftaten auf. Über 160 Delikte werden ihnen zugerechnet: Körperverletzungen, Raub, Bedrohungen, Einbrüche – und mehrere versuchte Tötungsdelikte.
Nach zahllosen Strafverfahren und Urteilen hat Baden-Württemberg nun die Konsequenz gezogen. „Zum jetzigen Zeitpunkt war die kontrollierte Ausreise die einzige Möglichkeit, den Aufenthalt der Familienmitglieder zu beenden“, erklärte Justizministerin Marion Gentges (CDU).
Rückkehr nach Syrien – ausgerechnet dorthin
Ein bemerkenswerter Schritt, denn Abschiebungen nach Syrien sind in Deutschland bislang praktisch ausgesetzt. Zu unsicher sei die Lage, zu groß das Risiko für Rückkehrer. Doch in diesem Fall sei die „freiwillige Ausreise“ unter staatlicher Aufsicht erfolgt, hieß es aus dem Justizministerium.
Vier Mitglieder reisten bereits im Sommer aus, 13 weitere folgten nun am Wochenende. Nur drei sitzen noch in deutschen Gefängnissen – sie sollen nach Verbüßung ihrer Strafen folgen.
Dass sich die Familie zu diesem Schritt entschloss, liegt offenbar auch am politischen Druck: Die Bundesregierung führt derzeit Gespräche mit der neuen syrischen Regierung über mögliche Rückführungen bestimmter Gruppen. Das habe laut Gentges die „Bereitschaft zur freiwilligen Rückkehr deutlich erhöht“.
Flüchtlingsschutz – und seine Grenzen
Die Familienmitglieder waren ursprünglich als anerkannte Flüchtlinge oder subsidiär Schutzberechtigte nach Deutschland gekommen. Das bedeutet: Sie hatten Anspruch auf Aufenthalt, obwohl sie nicht als Asylberechtigte galten – weil eine Rückkehr nach Syrien als unzumutbar galt.
Doch genau dieser Schutzstatus wurde nach den wiederholten Straftaten aufgehoben. Der Fall zeigt, wie schwierig der Umgang mit Straftätern unter internationalem Schutzrecht bleibt. Selbst bei schwerer Kriminalität sind Abschiebungen oft nicht durchsetzbar, solange kein sicheres Rückführungsabkommen besteht.
Symbolfall für ein überfordertes System
Der Fall der Stuttgarter Großfamilie gilt mittlerweile als Symbol einer politischen und rechtlichen Lücke, die Behörden regelmäßig vor unlösbare Aufgaben stellt. Zwischen Schutzpflicht und Sicherheitsinteresse steht der Rechtsstaat auf dünnem Eis: Einerseits müssen die Grundrechte gewahrt bleiben, andererseits darf die öffentliche Ordnung nicht gefährdet werden.
In Stuttgart und Umgebung sorgte die Familie seit Jahren für Schlagzeilen – immer wieder wegen Gewaltdelikten, Diebstählen und Auseinandersetzungen. Ermittler sprechen von einer hochentwickelten Clanstruktur, die auf familiären Zusammenhalt und Abschottung setzt.
„Jede Maßnahme, jede Anzeige hat Monate oder Jahre gedauert“, sagt ein Ermittler aus dem Umfeld. „Das System war überfordert.“
Die politische Dimension
Der Fall hat längst Berlin erreicht. Innenministerin Nancy Faeser und Vertreter der CDU-geführten Länder streiten seit Monaten über die Frage, wie mit straffälligen Schutzberechtigten umzugehen ist. Während die Bundesregierung auf humanitäre Standards pocht, fordern konservative Länder eine Neuordnung des Asylrechts – insbesondere bei schweren Straftaten.
CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann sprach jüngst von einem „Versagen des Rechtsstaats“, wenn Personen mit Hunderten Straftaten weiter in Deutschland leben dürften. Die Länder verlangen schnellere Verfahren, strengere Grenzprüfungen und konsequentere Statusüberprüfungen.
Rückkehr mit Signalwirkung
Dass nun 17 Familienmitglieder tatsächlich ausgereist sind, werten Beobachter als Signal mit Wirkung über den Einzelfall hinaus. Es zeige, dass staatliche Institutionen unter bestimmten Umständen handlungsfähig bleiben – auch wenn der Preis hoch war.
Die Rückkehr erfolgte kontrolliert, begleitet von Sicherheitskräften und mit diplomatischer Abstimmung. Für Gentges ist der Fall ein Beweis, dass „rechtsstaatliche Konsequenz und humanitäre Verantwortung sich nicht ausschließen müssen“.
Zwischen Recht und Realität
Der Fall legt zugleich offen, wie kompliziert und widersprüchlich das deutsche Rückführungssystem ist. Zwischen politischen Versprechen, gerichtlichen Hürden und diplomatischen Unsicherheiten entsteht ein Raum, in dem Täter über Jahre geduldet werden – zulasten der Glaubwürdigkeit des Staates.
Mit der kontrollierten Ausreise der Stuttgarter Familie schließt sich nun ein Kapitel, das zeigt, wie dünn die Linie zwischen Asylrecht und öffentlicher Sicherheit geworden ist.
Mehr als 160 Straftaten, 20 Familienmitglieder, fast ein Jahrzehnt an Verfahren – und am Ende doch der Rückweg in ein Land, das offiziell als unsicher gilt. Der Fall zeigt, wie sehr Deutschland an seine rechtlichen Grenzen stößt, wenn Humanität und Sicherheitsinteresse kollidieren.
Die Ausreise mag rechtlich korrekt und politisch notwendig gewesen sein – sie ist zugleich ein Eingeständnis, dass das System an seine Belastungsgrenze geraten ist.
