Der IWF greift tief in die politische Architektur ein
Der neue Länderbericht des Internationalen Währungsfonds trifft Berlin in einer Phase, in der Reformdruck und Haushaltszwang gleichzeitig steigen. Während die Koalition unter Kanzler Friedrich Merz und Vizekanzler Lars Klingbeil an ihrem Rentenpaket festhält, entwirft der IWF eine Gegenstrategie, die selbst für internationale Verhältnisse ungewöhnlich deutlich formuliert ist. Die Empfehlungen zielen direkt auf die großen Verteilungs- und Strukturfragen des Landes – und stehen damit im Widerspruch zu mehreren Kernprojekten der Bundesregierung.
Die Rentenreform soll gedämpft statt stabilisiert werden
Der schärfste Eingriff betrifft das Herzstück des deutschen Sozialstaats. Der IWF fordert, Renten künftig nicht mehr wie bisher an die Lohnentwicklung zu koppeln, sondern an die Inflation. Das würde den Anstieg der Renten spürbar bremsen und die Ausgabenlast des Systems über Jahre senken. In einer alternden Gesellschaft wäre das eine strukturelle Zäsur: Die reale Rentenentwicklung würde auf ein moderates Niveau gedeckelt, während die Regierung noch bis 2031 ein stabiles Rentenniveau garantieren will.
Zusätzlich verlangt der Fonds härtere Abschläge bei Frühverrentungen. Aus ökonomischer Sicht soll das den Verbleib Älterer im Arbeitsmarkt fördern, kurzfristig aber vor allem eines bringen: Einsparungen in Milliardenhöhe. Der Vorschlag steht quer zu den Plänen der Koalition, die Übergänge in den Ruhestand zwar ordnen, aber nicht verteuern will.
Der Haushalt rückt in den Mittelpunkt der Debatte
Die zweite Front betrifft die Finanzierung. Deutschland muss bis 2029 ein Haushaltsloch von 140 Milliarden Euro schließen. Der IWF rät zu einer Konsolidierung, die nicht primär über höhere Einkommensteuern läuft, sondern über Vermögen und konsumnahe Abgaben. Er nennt drei Hebel: die Schließung von Schlupflöchern bei der Erbschaftsteuer, eine Erhöhung der Grundsteuer und höhere Alkoholsteuern.
Vor allem die Erbschaftsteuer dürfte zum politischen Minenfeld werden. Das Bundesverfassungsgericht prüft derzeit, ob das bestehende System verfassungswidrig ist. Ein Urteil zugunsten einer Reform wäre für die Regierung ein Zwangspunkt – und würde den IWF-Vorschlag schlagartig relevant machen.
Die Wachstumsschwäche wird zum Risiko für das gesamte Modell
Der Bericht zeichnet ein nüchternes Bild der wirtschaftlichen Lage: Deutschland droht 2025 zum dritten Mal in Folge zu stagnieren. Das hat es seit Gründung der Bundesrepublik nicht gegeben. Die Wachstumstreiber fehlen, die Produktivität hängt zurück, und keine G7-Volkswirtschaft verliert in den kommenden fünf Jahren so viele Erwerbstätige wie Deutschland.
Diese strukturelle Schrumpfung verschärft den Fachkräftemangel und schwächt die industrielle Basis. Hinzu kommen geopolitische Risiken: Handelskonflikte, volatile Rohstoffpreise und eine global unsichere Sicherheitslage. Für ein exportorientiertes Land sind das gleich mehrere gegenläufige Kräfte.
Die bisherigen Maßnahmen reichen dem IWF nicht
Die Bundesregierung hat im Frühjahr ein Schuldenpaket beschlossen, das Bundeswehr, Infrastruktur und Unternehmenssteuern adressiert. Der IWF sieht darin einen wichtigen Schritt – aber keinen ausreichenden. Sein Urteil ist doppelt: Lob für das Investitionsprogramm, Kritik für den politischen Umgang damit. Der Fonds warnt davor, Mittel aus dem Infrastruktur-Sondervermögen zweckzuentfremden, und bemängelt verzerrende Einzelmaßnahmen wie den reduzierten Mehrwertsteuersatz für die Gastronomie.
Statt branchenspezifischer Entlastungen fordert er strukturelle Klarheit: das Streichen klimaschädlicher Subventionen, den Abbau von Mehrwertsteuerausnahmen und eine Neuordnung des Zusammenspiels von Steuern und Sozialleistungen. Gerade Geringverdiener würden heute kaum profitieren, wenn sie mehr arbeiten – ein Effekt, der Beschäftigung hemmt und den Staat teuer kommt.
Der Arbeitsmarkt muss geöffnet und entlastet werden
Der IWF legt besonderen Fokus auf die Arbeitskräftebasis. Deutschland müsse Frauen und Eltern den Weg in Vollzeit erleichtern, durch verlässliche Kinder- und Altenbetreuung. Er empfiehlt eine Reform des Ehegattensplittings, ergänzt durch höheres Kindergeld, um Zweitverdienern mehr Nettoanreize zu bieten.
Parallel sollen Integrationshürden für Einwanderer weiter abgebaut werden. Für den IWF zählt Zuwanderung zu den effektivsten Maßnahmen gegen den demografischen Druck – ein Punkt, den die Bundesregierung zwar teilt, aber nur schleppend umsetzt.

Bürokratie bleibt ein Hemmschuh der Wettbewerbsfähigkeit
Kaum ein Bereich wird im Bericht so klar kritisiert wie der Verwaltungsapparat. Überbordende Berichtspflichten, fehlende Digitalisierung, lange Genehmigungsprozesse – all das drückt die Produktivität. Der IWF fordert risikobasierte Kontrollen statt genereller Dokumentationspflichten, weniger Doppelstrukturen und schnellere Zulassungsverfahren.
Auch der Blick nach Europa spielt eine Rolle: Eine vertiefte Kapitalmarktunion sei einer der wirksamsten Wachstumsimpulse für Deutschland. Doch gerade hier blockiert Berlin, weil es das Drei-Säulen-System aus Sparkassen, Genossenschaftsbanken und Privatbanken schützen will.
Die Bundesregierung steht zwischen Reformdruck und politischer Vorsicht
Finanzminister Klingbeil steht vor der Aufgabe, Einschnitte zu vertreten, ohne die eigene Koalition zu spalten. Subventionskürzungen hat er bereits angekündigt, die Rentenreform der Regierung gilt dagegen als unantastbar. Die Spitzen der Koalition wollen das Paket noch in diesem Jahr durch den Bundestag bringen – und damit die IWF-Forderung nach einer grundlegenden Neuausrichtung vorerst ignorieren.
Doch die eigentliche Frage verschiebt sich nicht: Wie lässt sich ein Sozialstaat finanzieren, dessen Kosten schneller wachsen als die Wirtschaft? Der IWF hat darauf eine klare Antwort gegeben. Die Bundesregierung muss nun zeigen, ob sie eine eigene hat.


