Starker Lauf, gemischte Gefühle
Kaum ein Technologiewert hat in den vergangenen Monaten so konstant zugelegt wie IBM. Seit Jahresbeginn verzeichnet die Aktie ein Plus von gut 26 Prozent, auf Sicht eines Jahres summiert sich der Kursgewinn sogar auf über 63 Prozent.
Kurzzeitig markierte die IBM-Aktie am Donnerstag ein neues 52-Wochen-Hoch von 283,06 US-Dollar. Doch nach einer beachtlichen neuntägigen Rally setzte zuletzt eine leichte Korrektur ein.
Hinter dem Höhenflug steckt mehr als nur eine kurzfristige Erholung. IBM scheint sich im KI-Zeitalter neu zu positionieren – mit einem Geschäftsmodell, das sich spürbar von den dominierenden US-Tech-Giganten abhebt.
Agentic AI: IBMs Nische in der Künstlichen Intelligenz
Während Alphabet, Microsoft und OpenAI den Massenmarkt für KI-Modelle besetzen, sucht IBM seine Chancen in einer spezifischen Marktnische: der sogenannten „Agentic AI“.
Dabei geht es weniger um Chatbots für Endverbraucher, sondern um KI-Anwendungen, die auf unternehmensspezifischen, proprietären Daten basieren. IBM verspricht hier nicht nur mehr Präzision, sondern auch maßgeschneiderte Antworten, die sich eng an den Bedürfnissen von Branchen und Kunden orientieren.
Das Konzept scheint aufzugehen: Im ersten Quartal kletterte der Softwareumsatz um neun Prozent auf 6,3 Milliarden US-Dollar. Gleichzeitig übertraf der Konzern sowohl beim Umsatz als auch beim Gewinn die Erwartungen der Analysten.
Für das laufende Quartal zeigt sich das Management ebenfalls optimistisch: Mit prognostizierten Erlösen zwischen 16,4 und 16,75 Milliarden Dollar liegt IBM deutlich über dem Marktkonsens.
Quantensprung mit hohem Risiko
Doch der wahre Treiber für die Fantasie an der Börse kommt aus einem anderen Bereich: dem Quantencomputing.
Hier verkündete IBM am 10. Juni ein ehrgeiziges Vorhaben: den Bau des ersten groß angelegten, fehlertoleranten Quantencomputers – dem "IBM Quantum Starling". Die geplante Rechenleistung: das 20.000-Fache heutiger Systeme. Bis 2029 soll die Technologie marktreif sein.
IBM-Chef Arvind Krishna zeigt sich überzeugt:
„Unsere Expertise ebnet den Weg für ein System, das reale Probleme lösen und enorme Geschäftschancen eröffnen wird.“
Parallel dazu kündigt IBM bereits das Nachfolgemodell an: den "Quantum Blue Jay", der ab 2033 mehr als eine Milliarde Quantenoperationen durchführen soll.
In der Theorie wäre der Durchbruch beim fehlerfreien Quantencomputing ein Meilenstein, der dem Konzern einen massiven Innovationsvorsprung sichern könnte. Doch bisher bleibt das Projekt eine Wette auf die Zukunft – mit ungewissem Ausgang.
Analysten bleiben reserviert
Trotz des optimistischen Managements mahnen viele Analysten zur Vorsicht. Zwar überwiegen aktuell die Kaufempfehlungen – doch nur knapp. Nach Daten von TipRanks kommen derzeit acht Kauf-, fünf Halte- und zwei Verkaufsempfehlungen zusammen.
Das durchschnittliche Kursziel liegt mit 262 US-Dollar sogar leicht unter dem aktuellen Kursniveau. Selbst das optimistischste Kursziel von 300 US-Dollar entspricht nur einem moderaten Potenzial von etwa acht Prozent.
Hinter dieser Zurückhaltung steckt weniger Zweifel an der Innovationskraft des Konzerns, sondern vielmehr an der Marktdurchdringung und monetären Verwertung der Technologien.
IBM bewegt sich seit Jahren zwischen ambitionierten Zukunftsplänen und stagnierenden Wachstumszahlen im klassischen Geschäft. Auch der Quantenbereich könnte – ähnlich wie frühere Cloud-Vorhaben – am Ende weniger margenstark und skalierbar sein als von den Investoren erhofft.
Eine alte IBM-Erfahrung
Die Geschichte von IBM ist geprägt von großen Visionen, aber auch von vielen kostspieligen Transformationen. Schon der Wandel zum Cloudanbieter vor einigen Jahren verlief schleppender als erhofft.
Das Quantencomputing könnte für IBM zur nächsten entscheidenden Bewährungsprobe werden: ein disruptives Milliardenprojekt – mit unklarem Return on Investment.
Die Investoren an der Wall Street geben IBM aktuell einen Vertrauensvorschuss. Doch je näher das Jahr 2029 rückt, desto lauter werden die Fragen, ob es diesmal wirklich für den großen Wurf reicht.
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