Es war ein Satz, der Olaf Scholz noch lange nachhing: „Die Klage ist das Lied des Kaufmanns.“ Gesagt im Frühjahr 2024, als der damalige Kanzler die Sorgen der Wirtschaft kleinredete und stattdessen auf den nahenden „Turnaround“ verwies. Ein Jahr und eine Bundestagswahl später ist der Turnaround ausgeblieben – und Scholz Geschichte. Doch ausgerechnet sein Nachfolger, der konservative Friedrich Merz, greift nun zu ähnlichen Tönen.

Stimmungstherapie statt Strukturreformen
„Hören wir doch mal auf, so larmoyant und wehleidig zu sein“, forderte Merz am Freitagabend bei einer Rede vor der „Mittelstands- und Wirtschaftsunion“ in Köln. „Das Glas ist nicht halb leer, es ist halb voll.“ Es war eine Botschaft, die weniger an die Opposition als an Unternehmer, Wirtschaftsverbände und eine zunehmend frustrierte Bevölkerung gerichtet war. Und sie klang frappierend vertraut.
Denn anders als im Wahlkampf angekündigt, setzt Merz nach fünf Monaten im Amt nicht nur auf Deregulierung, Steuerentlastung oder Bürokratieabbau – sondern zunehmend auch auf Psychologie. „Lassen Sie uns unser Land nicht schlechtreden“, appellierte der Kanzler. Und fügte mit Blick auf die wachsende Zustimmung für die AfD hinzu: „Glaubt irgendjemand, dass es mit der AfD besser wird?“

Miniwachstum, Massenentlassungen, Mutlosigkeit
Der Zeitpunkt für Merz’ Aufruf ist kein Zufall. Die wirtschaftliche Großwetterlage ist düsterer, als es jede Regierung sich wünschen könnte. Deutschlands Bruttoinlandsprodukt wächst 2025 laut führenden Instituten nur um 0,2 Prozent – eine Zahl, die mehr an eine Stagnation erinnert als an einen Aufschwung.
Großunternehmen wie Bosch kündigen erneut massive Stellenstreichungen an, die Energiepreise bleiben hoch, der Investitionsstau in der Industrie ist ungelöst. Viele Mittelständler verschieben Expansionen oder Produktionsverlagerungen ins Ausland. Selbst in Brüssel steht die Wettbewerbsfähigkeit Europas auf der Agenda, wenn Merz kommende Woche beim EU-Gipfel in Kopenhagen mit seinen Amtskollegen zusammentrifft.
All das wirkt wie ein scharfer Kontrast zur Regierungsrhetorik. Während der Kanzler eine „positive Grundhaltung“ fordert, wächst der Unmut in der Wirtschaft weiter – und mit ihm der Eindruck, dass die Politik auf Durchhalteparolen setzt, wo längst Strukturreformen nötig wären.
Die Sehnsucht nach amerikanischem Optimismus
„Etwas mehr Amerika wagen“, schlug Merz vor – und meinte damit nicht Freihandel oder Investitionsklima, sondern Mentalität. Die „grundsätzlich positive Lebenseinstellung der Amerikaner“ habe ihn immer beeindruckt. Deutschland müsse lernen, Chancen zu sehen, nicht nur Probleme.

Die Botschaft mag gut gemeint sein, doch sie wirkt wie ein Placebo. Denn der Verweis auf amerikanischen Optimismus ist nur bedingt übertragbar: In den USA werden Innovationen schneller zugelassen, Regulierung ist oft schlanker, Kapitalmärkte sind tiefer – Rahmenbedingungen, die hierzulande nach wie vor fehlen. Ohne sie bleibt jede Mentalitätswende eine Schönwetterübung.
Realitätsschock für einen Wirtschaftskanzler
Für Merz ist der aktuelle Gegenwind ein Test seiner politischen Glaubwürdigkeit. Der frühere BlackRock-Deutschlandchef war angetreten, um Deutschland wirtschaftlich zu modernisieren und „die Fesseln der Bürokratie zu sprengen“. Die Erwartungen waren entsprechend hoch – besonders in den Reihen der Wirtschaft.
Doch nach fast einem halben Jahr im Kanzleramt sind konkrete Erfolge rar. Die angekündigte Unternehmenssteuerreform stockt, beim Bürokratieabbau sind kaum Fortschritte messbar, und die Debatte über Industriepolitik verharrt in Parteistreit. Stattdessen verlagert sich die Regierungsstrategie auf Appelle – eine Parallele zu Scholz, die Merz wohl kaum schmecken dürfte.
Applaus auf Sparflamme
Selbst in der CDU-Basis hält sich die Begeisterung über die neue Tonlage in Grenzen. Vertreter des Mittelstandsverbands kritisieren hinter vorgehaltener Hand, dass die Regierung bislang „mehr über Stimmung als über Substanz“ rede. Einige Wirtschaftsvertreter fordern, Merz solle „weniger Motivationscoach und mehr Reformer“ sein.
Zwar erhielt der Kanzler in Köln Applaus für seine Rede – doch es war höflicher Applaus, kein frenetischer. Die Botschaft ist angekommen, der Glaube an schnelle Lösungen nicht.
Starker Wille trifft harte Realität
Die politische Versuchung, schlechte Stimmung zur Hauptursache wirtschaftlicher Schwäche zu erklären, ist alt – und sie ist gefährlich. Denn sie verschiebt den Fokus von strukturellen Problemen auf psychologische Effekte. Und sie kann leicht zum Bumerang werden, wenn spürbare Ergebnisse ausbleiben.
Merz hat recht, wenn er sagt, dass Pessimismus kein Geschäftsmodell ist. Aber Optimismus allein schafft keine neuen Arbeitsplätze, senkt keine Strompreise und bringt keine Investitionen zurück. Dafür braucht es nicht nur Mut, sondern auch Maßnahmen.
Am Ende entscheidet nicht die Stimmung über Deutschlands Zukunft – sondern ob eine Regierung mehr zu bieten hat als Durchhalteparolen.
