Historischer Wendepunkt an den Anleihemärkten
Am 9. September 2025 geschah, was bis dahin undenkbar schien: Französische Staatsanleihen rentierten mit 3,48 Prozent – leicht über dem Niveau italienischer Papiere. Seit Einführung des Euro 1999 war das noch nie der Fall.
Damit hat eines der wirtschaftlichen Schwergewichte Europas seine fiskalische Glaubwürdigkeit eingebüßt. Für Investoren ein klares Signal: Selbst die einst „sicheren“ Kernländer der Eurozone sind vor Misstrauen nicht mehr gefeit.
Politisches Chaos in Paris
Der Auslöser liegt nicht nur in den Zahlen, sondern in der Politik. Premierminister François Bayrou versuchte im September, mit einem Sparkurs gegenzusteuern – und scheiterte. Seine Vertrauensfrage ging verloren, kurz darauf trat er ab. Auch sein Nachfolger Sébastien Lecornu hielt nur wenige Wochen durch, bevor er das Handtuch warf.
Das Ergebnis: ein Land ohne finanzpolitische Linie. Frankreich steht heute mit einer Staatsverschuldung von rund 116 Prozent des BIP da – Tendenz steigend. Der IWF erwartet bis 2030 einen Anstieg auf 128 Prozent.
Der Schuldenmotor läuft heiß
Der Zinseszinseffekt verschärft die Lage. Frankreichs Nettozinskosten werden laut IWF bis Ende des Jahrzehnts auf 3,4 Prozent des BIP steigen – von aktuell rund 2,1 Prozent. Das bedeutet: Milliarden fließen allein in die Bedienung alter Schulden.
Der frühere Zinsrückenwind der Nullzinsjahre ist verschwunden. Und während Deutschland mit stabilen Finanzen glänzt und Italien zumindest diszipliniert spart, ringt Paris um Glaubwürdigkeit.
Alte Schwächen, neue Risiken
Die Lage ist symptomatisch für die strukturellen Defizite der Eurozone. Ohne gemeinsame Fiskalpolitik bleibt jeder Mitgliedstaat auf sich gestellt. Solange die EZB mit dem „Transmission Protection Instrument“ (TPI) eingreifen kann, sind größere Marktverwerfungen unwahrscheinlich. Doch das Vertrauen darauf, dass die Zentralbank „alles retten“ wird, birgt eigene Risiken.
EZB-Direktorin Isabel Schnabel versuchte zu beruhigen: Die Märkte funktionierten schlicht, wie sie sollten. Doch hinter dieser Gelassenheit steht die unausgesprochene Wahrheit: Wenn die Zinsen für französische Anleihen weiter steigen, wird die Notenbank eingreifen müssen – erneut.
Lehren aus der Eurokrise
Die Situation erinnert an die frühen 2010er-Jahre, als Mario Draghi mit seinem legendären „whatever it takes“ den Euro rettete. Seither gilt: Steigen Risikoaufschläge zu stark, zieht die EZB die Reißleine – verbal oder durch Käufe.
Doch während Italien seine Hausaufgaben teilweise gemacht hat, hat Frankreich seit Jahren Strukturreformen verschleppt. Die Gelbwestenbewegung steht sinnbildlich für die politische Lähmung eines Landes, das Reformen zwar ankündigt, aber selten umsetzt.
Risiko oder Investmentchance?
Für Anleger ist die neue Lage zweischneidig. Kurzfristig bedeutet sie Nervosität, langfristig eröffnet sie Chancen: Wer an die Stabilität der Eurozone glaubt, könnte von höheren französischen Renditen profitieren.
Doch Vorsicht: Hoch verschuldete Staaten sind auf Inflation und niedrige Realzinsen angewiesen. Anleger zahlen mit stiller Entwertung. Wer Staatsanleihen hält, sollte daher flexibel bleiben – und die Reflexe der EZB im Blick behalten.
Ein Weckruf für Europa
Frankreich ist nicht Griechenland, aber das Szenario erinnert fatal an die Zeit vor der Eurokrise. Ein Land im politischen Stillstand, eine Notenbank in Habachtstellung, Märkte, die Vertrauen verlieren.
Noch hält das System – auch dank des „Lagarde-Puts“, der Zusicherung, im Zweifel zu intervenieren. Doch die Botschaft der Märkte ist eindeutig: Selbst die Säulen des Euro stehen nicht mehr unangreifbar.
Frankreich ist zum Weckruf für Europa geworden. Ein Land, das einst Stabilität verkörperte, kämpft nun um fiskalische Glaubwürdigkeit. Die Renditen erzählen die Geschichte eines Kontinents, der seine eigenen Versprechen auf die Probe stellt – und dabei gerade lernt, dass Vertrauen die teuerste Währung ist.
