Die Lücke wird kleiner – aber nicht besser
Deutschland hat ein Fachkräfteproblem – und zwar kein theoretisches, sondern ein messbares. Laut einer neuen Analyse des Instituts der deutschen Wirtschaft fehlen aktuell 163.600 Arbeitskräfte in den sogenannten MINT-Berufen – Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik.
Das ist weniger als im Vorjahr, aber nicht etwa, weil die Lage sich gebessert hätte. Im Gegenteil: Viele Unternehmen stellen wegen der konjunkturellen Unsicherheit einfach keine Leute mehr ein.
Was nach Entspannung aussieht, ist in Wahrheit ein Rückzug aus Not. Weniger Nachfrage, nicht mehr Angebot.
Die strukturelle Lücke bleibt bestehen – und sie trifft ausgerechnet die Bereiche, die für den wirtschaftlichen und technologischen Umbau Deutschlands entscheidend sind: Energiewende, Digitalisierung, Verteidigung.
Bayern: Hightech-Land ohne Personal
Besonders drastisch ist die Situation im Süden. Bayern – das Bundesland mit den meisten MINT-Offenen Stellen – steht besonders schlecht da. 39.300 offene Ausbildungsstellen im MINT-Bereich stehen nur 18.300 Bewerberinnen und Bewerbern gegenüber.
Bei akademisch qualifizierten Kräften sieht es kaum besser aus: 10.000 Akademiker für 23.400 offene Jobs. Das ergibt eine Besetzungsquote von nur 48 Prozent.
Ein paradoxes Bild: Der Freistaat, wirtschaftlich eigentlich ein Vorreiter, wird zum Sorgenkind der Fachkräftestatistik. Der Grund? Eine hohe Nachfrage bei gleichzeitig schleppender Zuwanderung und stockender Anerkennung ausländischer Abschlüsse. Schon 2022 hatte das Münchner ifo-Institut gewarnt, dass genau hier Reformen nötig wären – passiert ist wenig.

Berlin: Kein Vorbild, aber ein Lichtblick
Vergleichsweise entspannt ist die Lage in Berlin und Brandenburg. Hier können 86 Prozent der MINT-Stellen mit qualifiziertem Personal besetzt werden, vor allem im Bereich der Meister und Techniker. Und trotzdem: Auch hier reicht das Angebot längst nicht mehr aus, um die künftige Nachfrage zu decken.
Denn überall gilt: Der Mangel ist nicht gleichmäßig verteilt – und nicht jeder Abschluss passt zu jeder Stelle. Besonders groß ist die Lücke bei Energie- und Elektroberufen (57.800 fehlende Fachkräfte), gefolgt von Maschinen- und Fahrzeugtechnik (32.400) sowie Bau und Metallverarbeitung.
Die IT-Branche, die lange als Mangelfach galt, steht mittlerweile „nur“ noch auf Platz fünf – dennoch fehlen hier bundesweit über 22.000 Fachkräfte.
Ein strukturelles Problem, keine Momentaufnahme
Auffällig ist: Der Mangel bleibt auch in wirtschaftlich schwachen Phasen hoch. Früher war das anders – in Rezessionen schrumpfte die Fachkräftelücke, weil weniger gesucht wurde.
Heute ist die Lage verfestigt. Unternehmen schreiben weniger Stellen aus, obwohl der Bedarf da wäre. Sie verzichten schlicht – und schieben damit Projekte auf oder lagern sie ins Ausland aus.
Das ist gefährlich. Digitalisierung, Energiewende und Industrie 4.0 brauchen genau die Leute, die derzeit fehlen. Wer den Umbau verschiebt, weil das Personal fehlt, verliert langfristig den Anschluss. Und das betrifft nicht nur große Konzerne – auch Mittelständler, Handwerksbetriebe und Start-ups spüren die Folgen.
Nachwuchs? Fehlanzeige
Der Blick in die Unis macht ebenfalls wenig Hoffnung. Laut IW sinkt das Interesse deutscher Studierender an MINT-Fächern – besonders in Physik, Mathematik und Ingenieurwissenschaften. Gleichzeitig gehen viele Beschäftigte bald in Rente: Ein Großteil der heute tätigen Ingenieure ist über 50 Jahre alt. Die Folge: Das Loch im Arbeitsmarkt wird nicht kleiner, sondern tiefer.
Zwar hat Zuwanderung zuletzt geholfen, den Mangel etwas zu lindern – aber: Die Verfahren sind kompliziert, langsam, oft frustrierend. Gerade für Fachkräfte aus Drittstaaten fehlt es an Planbarkeit. Die Anerkennung von Abschlüssen ist unübersichtlich, und wer durchhält, tut das nicht selten gegen bürokratische Widerstände.
Geld allein reicht nicht
Dabei lohnt sich der Weg: Wer in einem MINT-Beruf arbeitet, verdient überdurchschnittlich. Im Schnitt liegt der Monatsbruttolohn bei 4.486 Euro, knapp 700 Euro über dem Durchschnitt anderer Berufsgruppen im Alter von 25 bis 44 Jahren. Und doch scheint das finanzielle Argument nicht auszureichen.
Warum? Vielleicht, weil viele junge Menschen nicht wissen, wie hoch die Chancen sind. Vielleicht, weil das Schulsystem zu wenig Orientierung bietet. Oder weil der MINT-Bereich – trotz Innovationskraft – nach wie vor ein Imageproblem hat.
Was jetzt zu tun wäre
Das IW fordert daher klare Maßnahmen: schnellere Anerkennung ausländischer Qualifikationen, gezieltere Zuwanderung, besseres Matching zwischen Qualifikationen und Jobprofilen – und eine neue Bildungsstrategie, die früh ansetzt. Wer die Digitalisierung meistern will, muss bei der schulischen Grundbildung anfangen. Programmieren gehört ins Klassenzimmer, nicht nur ins Start-up.
Vor allem aber braucht es ein Umdenken in der Politik: Fachkräfte sind keine abstrakten Größen, sondern die Voraussetzung dafür, dass zentrale Zukunftsprojekte gelingen. Und wer es ernst meint mit Klimaschutz, Digitalisierung und wirtschaftlicher Resilienz, muss genau hier ansetzen.
Denn eins ist klar: Die MINT-Lücke ist keine Randnotiz. Sie ist der Kipppunkt.
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