Der Konflikt eskaliert – nicht auf dem Schlachtfeld, sondern am Verhandlungstisch
Ohne Vorwarnung, ohne Abstimmung, ohne Rücksicht auf Verbündete: Als die US-Regierung ihren 28-Punkte-Plan für einen schnellen Frieden in der Ukraine präsentierte, war das für europäische Staats- und Regierungschefs ein Schockmoment. Der Vorschlag, maßgeblich verhandelt zwischen Washington und dem russischen Sondergesandten Kirill Dmitrijew, liest sich aus europäischer Sicht wie ein Dokument russischer Interessen – und Europa wurde nicht einmal gefragt.
Kanzler Friedrich Merz brachte das Unbehagen am Rande des G20-Gipfels in Johannesburg nüchtern auf den Punkt: Ein Frieden könne „nur mit der Ukraine, niemals über sie“ verhandelt werden. Damit begann eine hektische diplomatische Woche, die Europa ungewollt in eine Führungsrolle drängt.
Die Kernprobleme des US-Plans
Die Kritik ist breit und ungewöhnlich scharf. Der Entwurf sieht vor, dass die Ukraine sich aus Donezk und Luhansk zurückzieht, die Größe ihrer Armee reduziert und auf einen NATO-Beitritt verzichtet. Im Gegenzug soll es vage formulierte Sicherheitsgarantien geben – russische Zugeständnisse fehlen fast komplett.
Was in Washington als pragmatisch gilt, betrachten europäische Hauptstädte als geopolitisch gefährlich. Ein militärisch geschwächtes, nicht mehr bündnisfähiges Kiew wäre langfristig erpressbar. Ein solches Arrangement wäre kein Frieden – sondern eingefrorene Instabilität mitten in Europa.
Europa reagiert schneller und geeinter als erwartet
Hinter den Kulissen tat sich in Johannesburg etwas Seltenes: Eine spontane Koalition. Deutschland, Frankreich, Großbritannien und weitere Unterstützerstaaten entwarfen noch während des Gipfels eine Gegeninitiative. Der Plan soll am Sonntag in Genf mit Washington und Kiew diskutiert werden.
Merz schaffte es, Trump zumindest von einem sofortigen Alleingang abzubringen. Der US-Präsident hatte der Ukraine zuvor ein Ultimatum gestellt: Zustimmung bis Donnerstag – oder das Aus für Waffenlieferungen und Geheimdienstkooperation.
Dass der Kanzler Trump überhaupt erreichte – und überzeugen konnte, Europa wieder einzubinden –, werten Diplomaten bereits als Erfolg.

Überraschung, Misstrauen, Zeitdruck
Die Art und Weise, wie der US-Plan vorbereitet wurde, sorgt in Europa für Misstöne. Dass US-Unterhändler Steve Witkoff den Entwurf vor allem mit einem russischen Vertrauten Putins abgestimmt hat, hinterlässt Fragezeichen. Und die operative Umsetzung in Kiew verschärft die Irritationen zusätzlich.
US-Emissär Daniel Driscoll soll laut „Financial Times“ verspätet zu einem Treffen mit europäischen Diplomaten erschienen sein – und dann erklärt haben, man verhandle „nicht über Details“. Sein O-Ton: „Wir müssen diese Scheiße hinter uns bringen.“
Ein europäischer Teilnehmer nannte die Atmosphäre „widerwärtig“. Die spanische Zeitung El País berichtet ähnlich deutlich: Die Amerikaner „haben Putins Argumentation übernommen“.
Selenskyjs Dilemma
Für den ukrainischen Präsidenten ist die Situation existenziell. Selenskyj beschreibt die Lage offen als „einen der schwierigsten Momente“ seit Kriegsbeginn: Es sei eine Wahl zwischen „Verlust der Würde“ oder dem Risiko, einen entscheidenden Verbündeten zu verlieren. Entweder die Annahme des US-Plans – oder ein Winter ohne ausreichende Militärhilfe.
Europa weiß, dass Kiew ohne Unterstützung nicht überleben kann. Und dass Washington jederzeit den Kurs wechseln kann.
Die Verhandlungen in Genf – Europas Moment der Wahrheit
In Genf sitzen am Sonntag die nationalen Sicherheitsberater Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens am Tisch, ergänzt durch weitere europäische Außenpolitiker. Von amerikanischer Seite ist die Zusammensetzung noch unklar. Sicher ist nur eines: Europa muss liefern.
Denn wenn Washington bei seinen Forderungen bleibt, stehen die Europäer vor einer Entscheidung, die über Jahrzehnte geopolitische Wirkung entfalten wird: Entweder sie übernehmen mehr Verantwortung – finanziell, militärisch, strategisch. Oder sie akzeptieren einen Frieden, der die Ukraine dauerhaft schwächt und Russland stärkt.

Ein Gipfel, der keiner sein wollte
Der G20-Gipfel sollte über Handel, Klima und Wachstum sprechen. Er wurde zum Ukraine-Krisengipfel. Dass Merz, Macron und Sunak im Minutentakt hinter verschlossenen Türen verhandelten, zeigt, wie abrupt Washingtons Vorstoß die europäische Agenda gekapert hat.
Doch gerade diese Konzentration könnte sich als Vorteil erweisen. Selten war Europa enger zusammen, selten war die Einigkeit deutlicher: Kein Frieden ohne die Ukraine. Keine NATO-Entscheidung ohne die NATO.
Der Sonntag entscheidet
Europa hat jetzt ein eigenes Dokument, eigene Forderungen, eigene rote Linien. Doch die Zeit läuft. Wenn Trump sein Ultimatum erneuert – oder Washington den Druck weiter erhöht –, droht der diplomatische Spielraum zu schrumpfen.
Der Ausgang der Gespräche in Genf wird zum Lackmustest: Wie souverän ist Europa wirklich, wenn es um Krieg und Frieden auf dem eigenen Kontinent geht?
Und wie viel Einfluss hat es noch auf einen US-Präsidenten, der sichtbar entschlossen ist, das Kapitel Ukraine schnell zu schließen – koste es, was es wolle?



