29. Oktober, 2025

Märkte

Chemie im Rückzug – Ineos droht mit Werksschließung in Marl

Der britische Chemieriese Ineos warnt vor dem Ende eines weiteren Produktionsstandorts im Ruhrgebiet. Billigimporte aus China drücken die Preise, Energie und Bürokratie die Margen. Europa droht die industrielle Selbstentkernung – und Deutschland steht im Zentrum.

Chemie im Rückzug – Ineos droht mit Werksschließung in Marl
Das Ineos-Werk in Marl steht vor dem Aus – betroffen wären 200 Arbeitsplätze und einer der letzten europäischen BDO-Standorte.

Wenn in Marl tatsächlich die Lichter ausgehen, trifft es mehr als nur 200 Beschäftigte. Es wäre ein weiteres Signal, dass Deutschlands Industrie den Rückwärtsgang eingelegt hat. Der britische Chemiekonzern Ineos erwägt, seine BDO-Produktion im Chemiepark Marl zu schließen – eine Schlüsselanlage, die Rohstoffe für Medikamente und Vitaminpräparate liefert.

Der Grund: eine Importflut aus China, die den europäischen Markt mit Dumpingpreisen überschwemmt und selbst große Player ins Wanken bringt.

Billigimporte statt Standortpolitik

In den vergangenen Monaten hat sich der Druck auf die europäische Chemiebranche dramatisch verschärft. Laut Handelsblatt-Daten stiegen die Chemieimporte aus China im ersten Halbjahr 2025 um 40 Prozent – vor allem im Bereich der Basischemie, also jener energieintensiven Grundstoffe, auf denen ganze Wertschöpfungsketten aufbauen.

„Diese Produkte werden mit billiger Kohleenergie hergestellt, über Tausende Kilometer verschifft und in Europa unter Marktpreis verkauft“, klagt ein Ineos-Sprecher.

Das sei nicht nur ein ökonomisches, sondern auch ein ökologisches Paradox: Während Europas Unternehmen CO₂-Zertifikate kaufen und ihre Prozesse dekarbonisieren, erobern chinesische Produzenten mit klimaschädlicher Massenproduktion die Märkte.

Für die EU ist das ein altbekanntes Muster – aber eines, das diesmal den Kern der Industrie trifft. Mit dem möglichen Aus in Marl würde Europa einen der letzten Hersteller der Chemikalie BDO verlieren – ein Rohstoff, der für Antibiotika und Statine ebenso unverzichtbar ist wie für Kunststoffe, Textilien oder Beschichtungen.

Europas Achillesferse: Energie und Regulierung

Ineos ist nicht allein. Seit 2023 haben laut Oxford Economics 21 große Chemieanlagen in Europa ihren Betrieb eingestellt, zusammen über elf Millionen Tonnen Produktionskapazität. Betroffen sind BASF, Dow, Covestro und zahlreiche Mittelständler. Der gemeinsame Nenner: Energiepreise, die viermal so hoch sind wie in den USA, und eine Regulierung, die selbst innerhalb der EU zunehmend als Standortnachteil gilt.

Die Schieflage ist strukturell. Während China mit massiven Staatsprogrammen Überkapazitäten aufbaut – die Chemieproduktion dort liegt 50 Prozent über dem Vorkrisenniveau von 2020 – verschärft Europa die eigenen Klimaziele, ohne seine Industrie wettbewerbsfähig zu halten. Die Folge: globale Verlagerung, nicht globale Dekarbonisierung.

Markus Kamieth, Vorstandschef der BASF, brachte es jüngst auf den Punkt: „Wir verlieren im Herzen unserer Wertschöpfung.“ Die Renditen in der Basischemie sind eingebrochen, Investitionen wandern in die USA oder nach Fernost.

Vom Produktionsland zum Importkontinent

Ineos warnt vor einem industriepolitischen Dominoeffekt. Wenn Europa seine Basischemie aufgibt, importiert es künftig nicht nur fertige Produkte, sondern auch strategische Abhängigkeiten. Medikamente, Düngemittel, Kunststoffe – alles hängt an denselben Grundstoffen. „Bei einem Stopp der BDO-Produktion in Marl wird Europa bei lebenswichtigen Arzneimitteln von asiatischen Produzenten abhängig“, warnt Ineos-Manager Andrew Brown.

Die EU hat das Thema erkannt, aber nicht gelöst. Fast die Hälfte aller neuen Antidumpingverfahren betrifft mittlerweile chemische Erzeugnisse aus China – Verfahren, die oft Jahre dauern und selten abschreckende Wirkung entfalten. Während Brüssel prüft, reagiert Peking längst.

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Das deutsche Dilemma

Deutschland steht dabei doppelt unter Druck. Einerseits wegen seiner hohen Energiepreise und der CO₂-Kosten, andererseits, weil viele seiner industriellen Cluster – wie Marl, Ludwigshafen oder Leuna – auf Verbundstrukturen angewiesen sind. Wenn ein Player fällt, geraten Zulieferer und Abnehmer mit ins Rutschen.

Die Schließungswelle, die mit Dow nahe Leipzig begann, zieht sich inzwischen quer durchs Land. Laut Handelsblatt sind rund 2.500 Arbeitsplätze in der deutschen Chemie in den letzten zwei Jahren verschwunden. Und das, obwohl die Bundesregierung zuletzt versprochen hatte, die Branche „zurück ins Spiel“ zu bringen.

„Ohne gezielten Schutz vor Dumpingpreisen wird Europa kein Industriestandort mehr bleiben“, sagt ein Brancheninsider.

Die Warnung klingt drastisch, aber realistisch. Denn die politische Reaktion bleibt zaghaft: Förderpakete, Sondervermögen, Klimaziele – alles steht nebeneinander, nichts greift ineinander.

Wenn Klimaschutz zur Standortfalle wird

Die Ironie der Entwicklung: Europas strengste Umweltpolitik könnte zum größten Klimarisiko werden. Denn wenn CO₂-intensive Produktionen in Regionen mit laxen Standards verlagert werden, sinken die globalen Emissionen nicht – sie steigen. Ineos betont, dass die Anlage in Marl eine der „saubersten BDO-Produktionsstätten weltweit“ sei. In China dagegen werde derselbe Stoff mit Kohlestrom und erheblich höheren Emissionen hergestellt.

Es ist ein Lehrbuchbeispiel für das Phänomen des „Carbon Leakage“: Europa spart auf dem Papier, aber verschiebt die Emissionen dorthin, wo sie niemand zählt.

Ein Symptom, kein Einzelfall

Das drohende Aus in Marl ist mehr als ein betriebswirtschaftliches Problem. Es ist ein Menetekel für den Zustand der europäischen Industriepolitik. Die Kombination aus hohen Kosten, politischer Untätigkeit und globalem Preisdruck droht, das Fundament der industriellen Wertschöpfung zu unterspülen.

Was bleibt, sind leere Versprechen und volle Häfen – mit Chemikalien aus Fernost. Wenn Ineos geht, geht ein Stück industrielle Selbstständigkeit verloren. Und vielleicht auch der letzte Rest Glaubwürdigkeit einer europäischen Industriepolitik, die den Markt reguliert, während andere ihn gestalten.

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