Lars Klingbeil hätte allen Grund zur Freude. 100 Milliarden Euro mehr Staatseinnahmen bis 2029 – das ist die größte positive Abweichung seit Jahren. Doch anstatt mit glänzenden Zahlen den politischen Druck zu mindern, steht der Finanzminister vor einem Dilemma: Wie verkauft man ein Plus, das keins ist?
Denn die gute Nachricht der Herbst-Steuerschätzung hat einen Haken – und zwar einen gewaltigen. Der Staat nimmt zwar deutlich mehr ein als erwartet, doch die Spielräume im Bundeshaushalt bleiben eng. Klingbeil will an seinem Sparkurs festhalten, koste es politischen Kredit.
Der schöne Schein der Steuermehreinnahmen
Die Experten des Arbeitskreises Steuerschätzung haben ihre Erwartungen kräftig nach oben korrigiert: Bund, Länder und Kommunen können in den kommenden fünf Jahren mit rund 100 Milliarden Euro mehr rechnen als noch im Mai. Das liegt an höheren Lohnsteuern, einer robusteren Binnenkonjunktur und besser als erwartet laufenden Unternehmensgewinnen.
Besonders stark sprudeln derzeit die Einnahmen aus der Lohnsteuer – ein Hinweis darauf, dass die Beschäftigung stabil bleibt, auch wenn das Wirtschaftswachstum auf niedrigem Niveau verharrt. Für Klingbeil ist das ein doppeltes Signal: Die Konjunktur scheint sich zu stabilisieren, gleichzeitig stärkt das Steuerplus seine politische Position – zumindest auf dem Papier.
Doch was nach einer Entlastung aussieht, reicht nicht, um das strukturelle Defizit im Bundeshaushalt zu stopfen. Der Bund profitiert nur zu etwa 40 Prozent von den Mehreinnahmen, also rund 40 Milliarden Euro. Der Rest geht an Länder und Kommunen, die durch ihre Beteiligung an der Umsatzsteuer ohnehin stärker profitieren.
Ein Rekordloch trotz Rekordeinnahmen
Der eigentliche Skandal liegt nicht in den Zahlen, sondern in ihrer Wirkungslosigkeit. Denn selbst nach der neuen Schätzung bleibt das Haushaltsloch gewaltig: Zwischen 2027 und 2029 übersteigen die geplanten Ausgaben die Einnahmen um satte 172 Milliarden Euro.
Klingbeil versucht, gegenzusteuern – mit einem strikten Sparkurs, der im Regierungsapparat zunehmend Widerstand auslöst. Kürzungen bei Subventionen, Förderprogrammen, Dienstwagensteuer und eine mögliche Anpassung der Erbschaftsteuer stehen auf der Liste. „Wir müssen uns ehrlich machen“, heißt es aus Ministeriumskreisen, „das Problem ist strukturell, nicht konjunkturell.“
Dass Klingbeil gleichzeitig überlegt, die Zinskosten für Verteidigungsausgaben von der Schuldenbremse auszunehmen, zeigt, wie eng der finanzielle Spielraum geworden ist. Allein dadurch könnte sich der Etat um bis zu 20 Milliarden Euro entspannen – vorausgesetzt, die Union macht mit. Doch ausgerechnet von dort kommt Widerstand: „Das wäre ein Dammbruch“, warnt ein Unionsvertreter.
Klingbeil zwischen Realität und Erwartung
Das eigentliche Problem ist ein kommunikatives: Wie erklärt man der Öffentlichkeit, dass 100 Milliarden Euro Mehreinnahmen nicht reichen? Klingbeil weiß, dass eine zu optimistische Deutung der Zahlen seine Sparpolitik politisch unterminieren würde. Schon jetzt fordern Koalitionspartner neue Investitionsprogramme, Länder verlangen Entlastungen, und Sozialverbände fordern Ausnahmen vom Kürzungsplan.

„Das Steuerplus ist erfreulich, aber kein Freifahrtschein“, heißt es daher aus dem Finanzministerium. Die zusätzlichen Einnahmen seien Ausdruck eines „Investitionsbooms“, den die Regierung selbst angestoßen habe – doch für neue Ausgaben reiche das nicht. Klingbeil muss den Eindruck vermeiden, dass der Spardruck künstlich überhöht wird, um Disziplin zu erzwingen.
Länder profitieren – Bund kämpft weiter
Während die Länder ihre Kassen füllen, bleibt der Bund auf der Strecke. Die Sommervereinbarung, die den Ländern einen höheren Anteil an der Umsatzsteuer zusichert, entzieht Berlin Milliarden. Für die Kommunen ist das eine willkommene Atempause, für Klingbeil ein weiterer Stolperstein.
So schrumpft das Haushaltsloch 2027 zwar um rund zehn Milliarden Euro – von 34 auf etwa 24 Milliarden –, doch die strukturelle Schieflage bleibt bestehen. Hinzu kommen Risiken: schwächeres Wachstum, höhere Zinsen, geopolitische Unsicherheiten. Selbst kleine Abweichungen könnten den fragilen Finanzplan schnell wieder zunichtemachen.
Der Finanzminister als Krisenmanager
Klingbeil ist erst seit wenigen Monaten im Amt – und steht bereits vor der größten Haushaltsherausforderung seit Gründung der Bundesrepublik. Sein Vorgänger Christian Lindner kämpfte mit der Schuldenbremse, Klingbeil muss sie neu definieren. Der Unterschied: Er tut es mit weniger Ideologie, aber größerem Spardruck.
In Washington warb der Finanzminister zuletzt um Investoren und versuchte, Vertrauen in die deutsche Stabilität zu schaffen. Dort, vor amerikanischen Fondsmanagern, kündigte er an, die Haushaltslücke „mit klaren Kürzungen und einer realistischen Finanzpolitik“ zu schließen. In Berlin wird man ihn daran messen.
Viel Geld, wenig Spielraum
Die neue Steuerschätzung ist ein Paradoxon: Sie bringt Entlastung, ohne Probleme zu lösen. Die Mehreinnahmen sind real, doch sie reichen nicht aus, um die strukturellen Defizite des Bundes zu stopfen.
Deutschland erlebt damit eine Situation, in der Rekordeinnahmen auf Rekordschulden treffen – und das Vertrauen in die fiskalische Disziplin zum entscheidenden Kapital wird. Klingbeil kann sich die Erleichterung nicht leisten. Der Finanzminister muss sparen, während die Kassen klingeln. Ein Widerspruch, der ihm politisch noch lange nachhallen wird.


