Die Warnung kommt nüchtern, aber sie sitzt. Nach Berechnungen des Wirtschaftsweisen Martin Werding könnten die Sozialabgaben in Deutschland langfristig auf mehr als 60 Prozent steigen. Nicht als theoretisches Schreckensszenario, sondern als logische Folge geltenden Rechts in einer alternden Gesellschaft. Die neue Bevölkerungsvorausrechnung des Statistischen Bundesamts verschärft die Lage zusätzlich.
Was lange als schleichendes Problem galt, nimmt nun konkrete Konturen an. Die Finanzierung des Sozialstaats droht aus dem Gleichgewicht zu geraten – zulasten der Erwerbstätigen.

Die Erwerbsbevölkerung schrumpft schneller als erwartet
Ausgangspunkt der Berechnungen ist die aktuelle Prognose des Statistischen Bundesamts. Danach wird die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter deutlich stärker zurückgehen als bislang angenommen. Selbst in der moderatesten Variante fehlen bis 2070 rund zehn Millionen potenzielle Arbeitskräfte.
Dieser Rückgang trifft ein System, das strukturell auf stetig wachsende Beitragszahler angewiesen ist. Weniger Erwerbstätige müssen für immer mehr Rentner, Pflegebedürftige und Leistungsempfänger aufkommen. Migration, oft als Ausweg genannt, kann diese Entwicklung laut Werding nicht kompensieren – selbst dann nicht, wenn sie netto positiv ausfällt.
Sozialabgaben steigen schrittweise, aber unaufhaltsam
In seiner Modellrechnung für den Spiegel kommt Werding zu klaren Zahlen. Bereits bis 2050 könnte die Summe der Sozialbeiträge auf rund 53 Prozent steigen. Gemeint sind Renten-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung zusammen.
Bleibt das System darüber hinaus unverändert, droht eine weitere Eskalation. Bis 2080 könnten die Sozialabgaben laut Werding sogar 60,1 Prozent erreichen. Das wäre ein historischer Höchststand – und eine Zäsur für den Arbeitsmarkt.
Zum Vergleich: Frühere Berechnungen, die noch auf älteren Bevölkerungsannahmen beruhten, gingen von maximal 57,9 Prozent aus. Die neue Prognose verschiebt die Belastungsgrenze deutlich nach oben.
Steuern verschärfen den Effekt dramatisch
Die reine Betrachtung der Sozialabgaben greift dabei zu kurz. Denn sie kommen zusätzlich zur Einkommensteuer. Für Spitzenverdiener ergibt sich laut Werding ein ernüchterndes Bild: Im Spitzensteuersatz blieben netto weniger als zehn Prozent des Bruttogehalts übrig.
Arbeit würde damit faktisch zum Durchlaufposten für den Staat. Leistungsanreize, so die implizite Warnung, würden massiv erodieren. Nicht nur hochqualifizierte Fachkräfte, auch mittelständische Leistungsträger könnten ihre wirtschaftlichen Entscheidungen neu bewerten – mit Folgen für Investitionen, Arbeitszeit und Standortwahl.

Demografie schlägt jede politische Schönrechnung
Werding betont, dass seine Berechnungen keine politische Agenda abbilden, sondern strikt vom geltenden Recht ausgehen. Er unterstellt also ausdrücklich, dass sich an Rentenformel, Beitragssystemen und Eintrittsaltern nichts ändert.
Genau darin liegt die Sprengkraft. Denn politische Entscheidungen der jüngeren Vergangenheit gehen in die entgegengesetzte Richtung. Haltelinien beim Rentenniveau, die Ausweitung der Mütterrente und das Festhalten am gesetzlichen Renteneintrittsalter erhöhen die langfristigen Kosten weiter.
Das jüngste schwarz-rote Rentenpaket ist in Werdings Rechnung noch nicht einmal enthalten. Würde es vollständig berücksichtigt, dürften die projizierten Beitragssätze eher höher als niedriger ausfallen.
Reformverweigerung wird zum teuersten Szenario
Besonders deutlich wird Werding an einem Punkt: Die 60-Prozent-Marke ist kein Naturgesetz, sondern das Ergebnis politischer Untätigkeit. Seine Projektion unterstellt ausdrücklich, dass künftige Regierungen jede grundlegende Reform verweigern.
Das ist kein unrealistisches Szenario. Renten-, Pflege- und Gesundheitspolitik gelten als politisch hochsensibel. Strukturelle Einschnitte werden regelmäßig vertagt, Lasten in die Zukunft verschoben. Der Preis dieser Strategie wird nun sichtbar.
Werding spricht offen von „massiven Problemen“. Die steigenden Sozialabgaben hätten „drastische Rückwirkungen auf Wachstum und Beschäftigung“. Gemeint ist nicht nur die Belastung einzelner Haushalte, sondern die Wettbewerbsfähigkeit des gesamten Wirtschaftsstandorts.
Arbeit wird systematisch verteuert
Ökonomisch ist der Mechanismus klar. Hohe Lohnnebenkosten verteuern Arbeit, senken die Nachfrage nach Arbeitskräften und fördern Ausweichreaktionen. Schwarzarbeit, Teilzeitmodelle, Selbstständigkeit außerhalb der Sozialversicherung oder Abwanderung gewinnen an Attraktivität.
Gleichzeitig schrumpft die Basis, auf der das System finanziert wird. Ein klassischer Teufelskreis. Je stärker die Beiträge steigen, desto größer wird der Druck auf Beschäftigung – und desto höher müssen die Beiträge weiter steigen.
Die Zeitfenster für Gegenmaßnahmen schließen sich
Reformen wirken im Sozialstaat mit großer zeitlicher Verzögerung. Eine Anpassung des Renteneintrittsalters, Änderungen in der Beitragsbemessung oder stärkere Kapitaldeckung entfalten ihre Wirkung erst nach Jahren oder Jahrzehnten.
Genau deshalb sind die aktuellen Prognosen so brisant. Sie zeigen nicht nur, wohin die Reise geht, sondern auch, wie wenig Spielraum bleibt. Jeder weitere Aufschub erhöht die Belastung der nachfolgenden Generationen – und verschärft die Eingriffe, die irgendwann unvermeidlich werden.
Eine unbequeme Wahrheit ohne politische Übersetzung
Werdings Zahlen sind keine Prognose mit Anspruch auf mathematische Präzision. Er selbst weist darauf hin, dass die tatsächlichen Beitragssätze etwas höher oder niedriger ausfallen können. Die Richtung allerdings ist eindeutig.
Die Demografie ist kein ideologisches Konstrukt, sondern Statistik. Sie lässt sich nicht wegverhandeln, nicht subventionieren und nicht per Gesetz außer Kraft setzen. Genau darin liegt die unbequeme Wahrheit dieser Berechnungen.
Ob die Politik daraus Konsequenzen zieht, bleibt offen. Sicher ist nur: Wenn sie es nicht tut, wird der Sozialstaat nicht sanft angepasst, sondern brutal verteuert. Für viele Arbeitnehmer würde dann vom Bruttogehalt vor allem eines übrig bleiben – die Rechnung.



