Ein Milliardenprojekt mit schottischen Wurzeln
Wenn 2026 „Grand Theft Auto VI“ erscheint, wird das keine einfache Spieleveröffentlichung, sondern ein globales Kulturereignis. Das Spiel, berüchtigt für Gangsterfantasien, Drogenhandel und zynischen Humor, soll über zwei Milliarden Dollar in der Entwicklung gekostet haben – und wahrscheinlich innerhalb einer Woche profitabel sein. Entwickelt wurde es, wie immer, in Edinburgh. Von einem Studio, das aus drei Informatiknerds in Dundee hervorging.
Dass einer der größten Exportschlager der digitalen Welt ausgerechnet aus Schottland kommt, hat Symbolkraft. Die britische Regierung weiß das – und feiert die Gaming-Industrie seit Kurzem als strategischen Schlüsselbereich. Höchste Zeit.
Eine Branche, die längst führend ist – aber nie so genannt wurde
Großbritannien ist nach den USA und Japan der weltweit drittgrößte Exporteur von Videospielen – noch vor Ländern wie China oder Südkorea. 2021 setzte die britische Branche 8,8 Milliarden Dollar im Ausland um, Tendenz steigend. In der Heimat bringt sie mehr Umsatz als Film und Musik zusammen: über 5,8 Milliarden Dollar im Jahr, laut offiziellen Angaben.
Dazu beschäftigt sie mehr als 30.000 Entwickler, Designer, Musiker und Kreative – viele davon außerhalb Londons. Der Pro-Kopf-Wertschöpfungsbeitrag übertrifft den nationalen Durchschnitt deutlich. Und: Während viele Branchen zentralisiert sind, verteilt sich die Gaming-Wirtschaft erstaunlich breit über das Land.
Vom Schlafzimmer zum Studio
Der Ursprung dieser Erfolgsgeschichte liegt nicht in Silicon Valley – sondern in britischen Kinderzimmern der 1980er-Jahre. Damals machten erschwingliche Heimcomputer aus Tüftlern Entwickler.
Es war die Geburtsstunde der „Bedroom Coders“: junge Menschen, die zwischen Tapete und Diskettenlaufwerk Spiele wie Broken Sword oder Tomb Raider programmierten. Letzteres wurde zur Milliardenmarke – mit Netflix-Serie inklusive.
1997 startete die Universität Abertay in Dundee als erste weltweit ein Studienfach für Spieleentwicklung. Seither hat sich rund um Orte wie Leamington Spa, Cornwall, Teesside oder Slough ein dichtes Netz an Studios gebildet – oft mit schrägem Humor, eigenwilliger Ästhetik und britischem Selbstverständnis.

Skurrilität als Standortvorteil
Was das britische Game Design auszeichnet, ist nicht nur technisches Know-how – sondern exzentrischer Esprit. In „Thank Goodness You’re Here“ irrt der Spieler durch ein absurdes Yorkshire-Dorf, befreit Einwohner aus Gullis und backt übergroße Fleischpasteten.
Le Monde nannte es „ein Stück britische Seele“. In Atomfall durchquert man ein verstrahltes Lake District mit roten Telefonzellen. In Cornwall entwickelt ein Mini-Studio einen Arcade-Shooter mit einer Katze, Revolver und Katana. Das klingt nach Quatsch. Ist es auch – und gleichzeitig Weltklasse.
Zweifel in Westminster, Euphorie bei den Spielern
Und doch wird der Sektor politisch nicht mit der gleichen Ernsthaftigkeit behandelt wie etwa die Biotechnologie. In Teilen des britischen Parlaments halten sich Klischees: Gaming als Zeitverschwendung, Risikofaktor, Nischenphänomen. Dabei ist genau das Gegenteil der Fall.
Britische Spiele wie Fall Guys, LittleBigPlanet oder Total War sind weltweit erfolgreich. Mobile-Hits wie Golf Clash (aus Cheshire) oder Solitaire von Tripledot Studios (London) dominieren App-Charts. Letztere übernahmen jüngst für 800 Millionen Dollar die Mobile-Sparte von AppLovin – ein US-Konzern, notiert an der Nasdaq. Wer in Westminster noch von „Spielereien“ spricht, hat die Realität verschlafen.
Das Kapital kommt – aber oft aus dem Ausland
Ein strukturelles Problem bleibt: Es fehlt an lokalem Wagniskapital. Viele Studios wachsen kaum – oder werden aufgekauft. Tencent etwa übernahm 2022 den britischen Entwickler Sumo Digital. Auch andere Studios gingen an internationale Investoren, meist ohne Rückkehr.
Sir Ian Livingstone, der erste für Games geadelte Brite, bringt es auf den Punkt: „Wir sind großartig im Erfinden, aber schlecht im Behalten.“ Immerhin: Die neue Strategie der Regierung verspricht Investitionsprogramme und Schutzrechte für geistiges Eigentum – auch gegen KI-Kopien.
KI – Fluch und Chance
Apropos: Auch die Games-Branche steht vor einer Zäsur. Während Tech-Konzerne massenhaft Stellen streichen – Microsoft kündigte im Juli Projekte in Großbritannien, Sony schloss sein London-Studio 2024 – rollt die nächste Disruption bereits an: generative KI.
Viele Entwickler blicken mit Sorge auf die Automatisierung von Inhalten. In Brighton, bei Großbritanniens wichtigster Game-Konferenz, läuft ein Spiel, in dem man die verlassenen Server eines gescheiterten Entwicklerstudios erkundet – erdrückt von „AI Slop“. Eine Dystopie, erschreckend nah an der Realität.
Doch es gibt auch Optimismus. KI beschleunigt Prozesse: Was früher 90 Tage dauerte, lässt sich heute in zehn erledigen. Das betont auch Nick Poole von UK Interactive Entertainment. Und: „Je synthetischer die Welt, desto wichtiger echte Kreativität.“
Heilung per Controller – ernsthafte Anwendungen für ernste Probleme
Britische Games sind längst mehr als Unterhaltung. Der NHS, Großbritanniens staatlicher Gesundheitsdienst, verschreibt mittlerweile Games gegen Angststörungen und Depression.
VR wird in der Pilotenausbildung und bei Operationstrainings eingesetzt. Und der DeepMind-Gründer Demis Hassabis begann seine KI-Karriere mit dem Entwurf eines Freizeitparkspiels – im Kinderzimmer von Nordlondon.
Und was ist mit GTA?
Zurück zu Grand Theft Auto VI. Die neue Version wird 2026 erscheinen, mit globalem Hype, Rekordumsätzen und wachsender Kritik an Gewalt und Zynismus. Doch es bleibt: Die vielleicht wichtigste Spielereihe der Welt stammt aus Großbritannien.
Und steht sinnbildlich für eine Industrie, die sich von der Nische zum Rückgrat der Kreativwirtschaft entwickelt hat – mit stiller Konstanz, nerdigem Humor und enormer Wirtschaftskraft.
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