Pawel Durow inszeniert sich als Freiheitsikone – und erschafft ein Machtinstrument ohne Grenzen
Die Geschichte beginnt mit einem Wurf. 5000-Rubel-Scheine, gefaltet zu Papierfliegern, regnen vom Balkon eines Petersburger Altbaus. Unten drängen junge Männer, rempeln, kämpfen um die flatternden Scheine.
Der Mann, der diese Szenerie genießt, heißt Pawel Durow – damals Gründer von vk.com, heute Herr über Telegram. Das Bild sagt mehr über ihn als jede spätere Biografie: ein Unternehmer mit Sendungsbewusstsein, überzeugt davon, über den Dingen zu stehen.
Der Aufstieg eines Mannes, der Freiheit über alles stellt
Telegram hat in diesem Jahr die Marke von einer Milliarde Nutzern überschritten. Ein Messenger, der sich explizit weigert, Regeln einzuführen, und dessen Gründer stolz darauf ist, Plattformen und Staaten gleichermaßen zu trotzen.

Durow begreift Privatsphäre als höchsten Wert – auch dann, wenn Terrorgruppen, Staatspropagandisten oder Verschwörungsnetzwerke diesen Schutz nutzen. Sein Satz „Privatsphäre ist wichtiger als die Angst vor Terrorismus“ fasst eine Haltung zusammen, die ihn zum Helden für einige und zum Brandbeschleuniger für andere macht.
Dass Telegram zum Knotenpunkt für islamistische Gewaltvideos, Verschwörungsaufrufe, Oppositionelle, Dissidenten und Whistleblower zugleich werden konnte, ist kein Unfall. Es ist das Ergebnis eines konsequent libertären Denkens, das Regulierung als Bedrohung persönlicher Freiheit interpretiert – und nicht als Voraussetzung gesellschaftlicher Sicherheit.
Der Mythos vom Auserwählten
Die Arte-Dokumentation über Durow rekonstruiert den Weg eines Mannes, der früh lernte, sich außergewöhnlich zu fühlen. Ein ehemaliger Mitschüler erinnert an ein elitäres Gymnasium in St. Petersburg, das seinen Schülern einredete, sie seien „Übermenschen“, wenn sie komplexe Probleme schneller lösen könnten als andere.
Diese Mischung aus Intelligenzstolz und Sendungsbewusstsein prägt Durow bis heute. Seine Überzeugung, es sei seine patriotische Pflicht, möglichst viele Kinder zu zeugen, fügt sich nahtlos ein. Durow behauptet, Vater von mehr als hundert Kindern zu sein – ein Gedanke, der an eine moderne Form des Pronatalismus erinnert.

Der Vergleich mit Elon Musk drängt sich auf: zwei Tech-Milliardäre, die Regulierung verachten, eine fast mythische Rolle für sich beanspruchen und den eigenen Kinderreichtum zum Teil eines Zukunftsprojekts verklären. Kein Wunder, dass Musk Durow nach dessen Festnahme in Frankreich 2024 demonstrativ zur Seite sprang – „Liberté! Liberté! Liberté?“ twitterte er.
Freiheit als Programm – und als Risiko
Durows Ablehnung von Kontrolle hat Tradition. Schon bei vk.com griff er kaum ein, selbst wenn schwer belastendes Material auf der Plattform landete. Die Hoffnung: Digitale Räume regulieren sich selbst.
Doch Vertrauen kann kippen. Wer Regulierung konsequent ablehnt, verschiebt Verantwortung von Institutionen auf einzelne Personen. Durow entscheidet letztlich allein, wie Telegram reagiert, wie der Algorithmus priorisiert, wie Missbrauch bekämpft oder toleriert wird. Genau darin sehen Kritiker eine systemische Schwäche.
Nikolaj Kononov, Journalist und Durow-Biograf, spricht von einem Freiheitskult, der leicht in Autoritarismus kippen könne – nicht durch staatliche Macht, sondern durch persönliche Loyalität. Seine Forderung, Telegram müsse in öffentliche Kontrolle überführt werden, trifft einen zentralen Punkt: Die Plattform dient faktisch der Gesellschaft, gehört ihr aber nicht.
Das Selbstbild eines perfekten Performers
Durows Selbstinszenierung wirkt sorgfältig kuratiert. Der Körper ist trainiert, die Haarlinie operativ perfektioniert, der Instagram-Feed durchkomponiert. 300 Liegestütze täglich, Fotos ohne T-Shirt, ein Lifestyle, der kontrolliert, glatt und künstlich wirkt.
Er präsentiert sich als asketischer Überflieger: diszipliniert, unantastbar, fast schon transhuman. Dass diese Oberfläche nach KI-Bearbeitung aussieht, ist fast eine Randnotiz – sie passt in ein Weltbild, in dem Makellosigkeit kein Anspruch, sondern Beleg für Überlegenheit ist.
Ein Unternehmer zwischen Freiheitsversprechen und Kontrollverlust
Dass Durow aktuell in Dubai lebt, ist mehr als ein biografisches Detail. Es ist der Rückzugsort eines Mannes, der Staaten misstraut, aber zugleich ein System geschaffen hat, das ohne staatliche Regeln kaum beherrschbar ist. Telegram ist längst nicht nur Messenger, sondern ein globales Werkzeug politischer Kommunikation – und Manipulation.
Je größer die Plattform wird, desto weniger lässt sie sich auf eine libertäre Idee reduzieren. Sie ist Infrastruktur. Machtfaktor. Risiko.
Genau hier beginnt die Parallele zu Musk brüchig zu werden. Musk inszeniert sich als Visionär der Technik. Durow dagegen baut ein System, dessen gesellschaftliche Ambivalenz er akzeptiert – vielleicht sogar bewusst nutzt. Der nächste Elon Musk ist er nur auf den ersten Blick. Auf den zweiten ist er weit mehr Kontrollelement als Visionär – und gleichzeitig der Mann, der Kontrolle ablehnt wie kaum ein anderer.



