Ein politisches Kuriosum mit Sprengkraft
In der brandenburgischen Gemeinde Steinhöfel, 60 Kilometer östlich von Berlin, ist geschehen, was in Berlin undenkbar scheint: Eine Vertreterin der Linken und ein AfD-Politiker haben eine gemeinsame Fraktion gegründet. Bettina Lehmann und Matthias Natusch nennen ihr Bündnis „Vernunft und Verantwortung“ – ein Name, der in seiner Biederkeit fast das Potential der Provokation verschleiert.
Offiziell gehe es um Sachpolitik, um ländliche Infrastruktur, Daseinsvorsorge und Ehrenamt. „Wir wollen Brücken bauen, wo andere Brandmauern errichten“, heißt es in ihrer gemeinsamen Erklärung. Doch gerade dieser Satz wirkt wie ein politisches Streichholz. Denn in Zeiten, in denen Brandmauern das Lieblingswort der Parteizentralen sind, kommt der lokale Schulterschluss einem Frontalangriff auf die Parteilinien gleich.
Parteiführung empört – Ausschlüsse drohen
Die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. Sowohl die AfD als auch die Linke reagierten mit harscher Ablehnung und kündigten Konsequenzen an. Der AfD-Bundestagsabgeordnete Rainer Galla sprach von einer „inakzeptablen Zusammenarbeit mit Alt-SED-Kadern“ und forderte den sofortigen Austritt Natuschs aus der Fraktion oder der Partei. Ein Parteiausschlussverfahren werde geprüft.
Auch die Linke blieb sich treu – und ebenso unerbittlich. Brandenburgs stellvertretender Landesvorsitzender Stephan Wende erklärte, die Kooperation mit einer „gesichert rechtsextremen Partei“ sei „nicht vereinbar mit linker Politik“. Gegen Lehmann läuft nun ebenfalls ein Parteiausschlussverfahren.
Beide Parteien sehen also in dem, was in Steinhöfel als pragmatische Nachbarschaftspolitik gemeint war, einen politischen Tabubruch. Ein Schulterschluss, der in der Hauptstadt als moralisches No-Go gilt, wird auf kommunaler Ebene plötzlich zum Anlass für Empörung und Parteidisziplin.
Zwischen Provinzrealität und Parteidogma
Der Fall wirft ein Schlaglicht auf die Spannungen zwischen politischer Basis und Parteispitzen. Während in Berlin ideologische Linien mit Nachdruck gezogen werden, sieht man auf dem Land oft pragmatischer auf Politik. In Steinhöfel geht es nicht um Migration oder Identitätspolitik, sondern um Busverbindungen, marode Straßen und den Fortbestand der freiwilligen Feuerwehr.
Hier verschwimmen Grenzen schneller, wenn es um konkrete Probleme geht. In Gemeinden mit weniger als 5.000 Einwohnern ist es keine Seltenheit, dass sich politische Gegensätze im Alltag auflösen. Doch die Symbolkraft bleibt – und genau das ist das Problem: Wenn Linke und AfD gemeinsame Sache machen, selbst aus praktischen Gründen, rüttelt das an der moralischen Architektur des politischen Systems.
Eine gefährliche Normalisierung?
Kritiker sehen in der Episode von Steinhöfel mehr als nur eine lokale Randnotiz. Politikwissenschaftler warnen, dass solche Allianzen ungewollt dazu beitragen könnten, die AfD salonfähig zu machen – gerade dort, wo sie ohnehin tief in kommunale Strukturen vordringt. In über 250 Gemeinden in Ostdeutschland stellt die Partei inzwischen Bürgermeister oder Fraktionsvorsitzende.
Der Fall zeigt, wie brüchig das Konzept der „Brandmauer“ in der Praxis ist. Während Parteiführungen auf Distanz pochen, entscheiden Kommunalpolitiker zunehmend eigenständig – oft aus Frust über politische Isolation. „Wenn man gemeinsam etwas bewegen will, bleibt manchmal keine Alternative“, sagt ein brandenburgischer Kommunalvertreter hinter vorgehaltener Hand.
Kommentar: Ein kleiner Ort, ein großes Symbol
Was in Steinhöfel passiert, ist kein Zufall, sondern Symptom. Die politische Spaltung des Landes ist so tief, dass sich an ihren Rändern paradoxe Allianzen bilden. Die Ironie: Ausgerechnet dort, wo die Politik am nächsten an den Menschen ist, verliert die Ideologie ihre Schärfe – und das Parteiwesen seine Kontrolle.
Ob das nun mutiger Pragmatismus oder gefährliche Grenzüberschreitung ist, darüber wird man streiten. Doch eines ist sicher: Der Schulterschluss von „Vernunft und Verantwortung“ ist kein Provinztheater. Er ist ein Menetekel für die Fragilität der politischen Moral in einem Land, das sich zu sehr an seine Brandmauern gewöhnt hat.
