Kein Iran, kein Irak – und Russland auch nicht
Seit Mitte Juni ist der Himmel über dem Nahen Osten für die zivile Luftfahrt fast unpassierbar geworden. Iran und Irak haben ihren Luftraum gesperrt, die Route über Russland ist wegen des Ukrainekriegs tabu.
Was bleibt, ist ein Flickenteppich schmaler Korridore, überfüllt bis an die Grenze des Machbaren. In der Konsequenz wählen immer mehr Airlines den afghanischen Luftraum – trotz erheblicher Risiken.
Lufthansa-Flug LH780 war einer davon. Auf dem Weg nach Singapur flog der Jet in der Nacht über Turkmenistan eine ausgedehnte 360-Grad-Warteschleife, um nicht zu früh nach Afghanistan einzudringen.
Der Grund: Abstandsregeln. Mangels funktionierender Flugsicherung müssen Maschinen dort 15 Minuten Abstand halten – und sich gegebenenfalls in der Wüste „einparken“.
280 Flüge täglich – in einem Land ohne Radar
Was absurd klingt, ist Alltag geworden. Laut Flightradar24 hat sich der Luftverkehr über Afghanistan binnen weniger Tage verfünffacht – von rund 50 auf 280 Flüge pro Tag.
Eine strukturelle Flugsicherung existiert nicht. Stattdessen koordinieren sich die Piloten selbst per Funk. Position, Höhe, Geschwindigkeit: alles freiwillige Ansagen. Ein Verfahren, das auch in Teilen Afrikas üblich ist – aber dort meist mit UN-Unterstützung und nicht unter Kontrolle einer islamistischen Miliz.
Zwar ist der Luftraum oberhalb von 32.000 Fuß laut europäischer Luftfahrtbehörde (EASA) formal sicher – darunter wird es heikel. Angriffe durch „extremistische nichtstaatliche Gruppen“ seien nicht auszuschließen, heißt es. Gemeint sind Raketen, Mörser, Terroranschläge.
Auch wenn es derzeit keine Hinweise auf einsatzbereite Flugabwehrraketen in afghanischen Stammesgebieten gibt – die potenzielle Bedrohung bleibt.

Der Profit der Taliban – 700 Dollar pro Flug
Doch warum ist das für die Taliban überhaupt interessant? Die Antwort liegt – wie so oft – im Geld. Jeder Überflug bringt Einnahmen. 700 Dollar verlangt Afghanistan pro Passagiermaschine, die sein Lufthoheitsgebiet nutzt.
Bei 280 Flügen täglich summieren sich die Einnahmen auf rund 5,9 Millionen Dollar im Monat – für ein international isoliertes Regime ein willkommener Devisenzufluss.
Und genau deshalb ist es auch im Interesse der Taliban, dass die Maschinen unbehelligt durchkommen. Angriff auf eine 747? Unwahrscheinlich. Die Einnahmen aus dem Überfluggeschäft sind für das Land wertvoller als jedes medienwirksame Zeichen militärischer Stärke.
Was im Notfall passiert – will niemand testen
Was allerdings passiert, wenn ein Flugzeug in Afghanistan notlanden muss, ist weniger klar – und macht Piloten sowie Airlines nervös. Denn das Land bietet praktisch keine funktionsfähige technische Infrastruktur. Kein Bodenpersonal, keine Ersatzteile, keine Mechaniker.
Eine defekte Maschine in Kabul wäre ein logistischer Albtraum. Für Crew und Passagiere beginnt dann eine Reise ins Unbekannte – ohne diplomatische Vertretungen, Hotels oder medizinische Versorgung auf westlichem Niveau.
„Man will dort nicht runtergehen“, sagt Luftfahrtexperte Heinrich Großbongardt. Nicht nur aus Sicherheitsgründen – auch aus rein praktischer Sicht.
Zivilluftfahrt als geopolitisches Vabanquespiel
Dass Passagierjets heute wieder über ein Land fliegen, das keine funktionierende Flugsicherung hat, und in dem selbst NATO-Militärs bis vor Kurzem nur mit Luftunterstützung operieren konnten, zeigt, wie sehr sich die internationale Ordnung verschoben hat. Wirtschaftlicher Druck, Zeitpläne und Kosteneffizienz schlagen Sicherheitsbedenken – auch wenn das offiziell niemand zugeben will.
Die Luftfahrtbranche war schon immer gut darin, Krisen schnell zu umfliegen. Jetzt aber fliegt sie mittendurch – durch instabile Regionen, über Kriegsgebiete, zwischen politischen Fronten. Es ist ein System unter Stress – mit offenem Ausgang.
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