Standort Deutschland: Aufbruch oder Abbruch?
Es ist ein Satz, der hängenbleibt: „Es ist nicht fünf vor zwölf, es ist eins nach zwölf“, warnte Bundeskanzler Friedrich Merz jüngst beim Verband der Chemischen Industrie. Kaum eine Branche, kaum ein Vorstand, der nicht über die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts klagt: zu teuer, zu langsam, zu viel Regulierung.

Eine neue Studie von Roland Berger liefert nun die Bestandsaufnahme: die Risiken für Unternehmen sind hoch, die Zahl der Restrukturierungsfälle steigt, und manche Branchen stehen am Rand einer strukturellen Kettenreaktion.
Bürokratie, Politik, Kriege – die Top-Risiken
Die 140 befragten Restrukturierungsexperten zeichnen ein eindeutiges Bild:
- Bürokratie und Regulierung bleiben die größte Wachstumsbremse.
- Handels- und Zollpolitik entwickelt sich zum gravierenden Risiko.
- Geopolitische Spannungen und Kriege belasten Planung und Märkte.
Dagegen haben Inflation, Zinsniveau und sogar der Fachkräftemangel an Brisanz verloren – zumindest aus Sicht der Sanierungsexperten.
„Restrukturierung ist das neue Normal“
Die Experten stellen fest: Restrukturierungen sind längst keine Übergangsmaßnahme mehr, sondern Dauerzustand. Drei Viertel der Befragten berichten von steigenden Sanierungsfällen in den vergangenen zwölf Monaten. Der Roland-Berger-Partner Stefan Treiber fasst zusammen: „Restrukturierungen sind heute keine reinen Kostenprogramme mehr, sondern Geschäftsmodellfragen.“
Das bedeutet: Produktionslinien werden gestrichen, Standorte zusammengelegt, ganze Unternehmensteile verkauft oder geschlossen. Überbrücken bis zum nächsten Aufschwung – diese Strategie funktioniert nicht mehr.
Autoindustrie im Dauerstress
Nirgendwo ist der Druck größer als in der Autoindustrie. 95 Prozent der Befragten sehen akuten Restrukturierungsbedarf.
Die Gründe: Überkapazitäten, Zölle aus den USA, aggressive Konkurrenz aus China, dazu hohe Energiekosten im Inland. Die Branche ringt nicht mit einer Delle – sondern mit einem Strukturbruch.
Und das hat Folgen für die gesamte Wertschöpfungskette: Maschinenbau, Zulieferer, Anlagenbauer – sie alle hängen am Tropf der Autoindustrie. „Es besteht die Gefahr einer Kettenreaktion“, warnt Studienautor Alexander Müller.

Maschinenbau und Handel unter Druck
Schon jetzt spüren andere Sektoren die Last. Der Maschinen- und Anlagenbau ist mit 59 Prozent Nennungen die zweithäufigste Krisenbranche – ein sprunghafter Anstieg gegenüber dem Vorjahr.
Auch der Einzelhandel und Konsumgüterhersteller bleiben Problemfälle. Online-Konkurrenz, hohe Miet- und Personalkosten und ein verändertes Konsumverhalten setzen sie unter Druck. Hier geht es nicht nur um Umsatzprobleme, sondern um die Zukunftsfähigkeit ganzer Geschäftsmodelle.
Gewinnerbranchen: Rüstung, KI, Energie
Es gibt auch Lichtblicke. Die Rüstungsindustrie erlebt eine Sonderkonjunktur. Unternehmen aus Energie- und Netzwerktechnik sind robust aufgestellt. Und der KI-Bereich zieht Investitionen an, während Tourismus erstaunlich krisenfest bleibt. Doch das sind Ausnahmen in einem Gesamtbild, das von Belastungen dominiert wird.
Chief Restructuring Officers – die neuen Feuerwehrleute
Die Studie zeigt auch: Immer mehr Unternehmen holen Chief Restructuring Officers (CROs). Diese Krisenmanager sollen schnell handeln, Stakeholder zusammenbringen und harte Schnitte durchsetzen.
Doch die Nachfrage übersteigt das Angebot. Nur wenige haben die Erfahrung, internationale Gläubiger, Investoren und Vorstände gleichzeitig zu führen. Namen wie BayWa, Webasto oder Meyer Werft zeigen: Kaum ein Großkonzern kommt noch ohne externe Retter aus.
InvestmentWeek-Kommentar: Deutschland braucht seinen eigenen CRO
Die Diagnose ist eindeutig: Die deutsche Wirtschaft befindet sich in einem strukturellen Umbruch. Selbst wenn die Konjunktur 2026 wieder leicht anzieht, bleibt Restrukturierung das „New Normal“.
Es fehlt an einem Faktor, den auch Unternehmen vermissen: Führung mit der richtigen Mischung aus Retter- und Macherqualitäten.
Wenn Chief Restructuring Officers Konzerne durch Krisen steuern, wer steuert dann den Standort Deutschland? In Wahrheit bräuchte auch die Republik einen CRO – durchsetzungsstark, realistisch und kompromisslos. Denn „eins nach zwölf“ bedeutet: Die Zeit für Schönreden ist vorbei.
