Washington verschiebt den Fokus der Verhandlungen
Die jüngste Mitteilung aus dem Kanzleramt klingt nüchtern – ihre Bedeutung ist es nicht. Kanzler Merz, Präsident Macron, Premier Starmer und US-Präsident Trump sprechen von einem „entscheidenden Moment“ in den Waffenstillstandsverhandlungen. Hinter dieser Formel verbirgt sich ein Konflikt, der tiefer reicht als bisher bekannt: Die USA haben ein vertrauliches Papier vorgelegt, das den wirtschaftlichen Wiederaufbau der Ukraine neu ordnen und zugleich Russlands Rückkehr in globale Märkte vorbereiten soll.
Die Europäer erhielten das Dokument nicht als Diskussionsgrundlage, sondern zur Kenntnis. Die Botschaft ist klar: Die wirtschaftsgestaltende Rolle nach einem Deal beansprucht Washington – mit eigenen Prioritäten und eigenen Akteuren.
Die eingefrorenen russischen Vermögen werden zum Hebel amerikanischer Interessen
Im Zentrum des Plans stehen russische Vermögenswerte von rund 183 Milliarden Euro, die seit Kriegsbeginn blockiert sind. Während Europa diese Gelder unmittelbar für Wiederaufbauprojekte der Ukraine nutzen will, verfolgt die US-Regierung einen anderen Ansatz: Das Kapital soll von amerikanischen Unternehmen investiv eingesetzt werden – in groß angelegte Infrastrukturprojekte wie Rechenzentren, deren Energieversorgung angeblich aus dem AKW Saporischschja stammen könnte, das weiterhin unter russischer Kontrolle steht.
Der Anspruch ist ambitioniert: Mit professionellem Asset-Management solle der Fonds auf bis zu 800 Milliarden Dollar anwachsen. Der implizite Vorwurf an Europa: Ihr wollt finanzieren, wir wollen multiplizieren.

Das Auftreten der Wall Street verändert die Dynamik
Dass bei einem Gespräch zwischen Präsident Selenskyj, Trumps Chefverhandlern Steve Witkoff und Jared Kushner plötzlich Finanzminister Scott Bessent und Blackrock-Chef Larry Fink zuschalten, ist kein Zufall – sondern ein Signal. Die Verhandlungen haben eine zweite Ebene erhalten, in der geopolitische Ziele und finanzielle Interessen miteinander verschmolzen werden.
Für Europa ist diese Runde heikel. Die EU sieht die „frozen assets“ als solidarisches Instrument, nicht als Investmentvehikel. Dass ausgerechnet Fink – dessen Haus mit ukrainischen Wiederaufbauplänen bereits befasst war – nun in eine engere Abstimmungsgruppe rückt, zeigt, wie stark wirtschaftliche Erwägungen die amerikanische Ukraine-Strategie prägen.
Merz gerät zwischen politische Verantwortung und persönliche Historie
Besonders prekär ist die Lage für Kanzler Friedrich Merz. Als früherer Aufsichtsratschef von Blackrock Deutschland steht er unter gesteigerter Beobachtung. Gleichzeitig kämpft er in Brüssel dafür, die blockierten Vermögen freizugeben, um der Ukraine unmittelbare Spielräume zu verschaffen. Der Widerstand Belgiens gilt dabei als größtes Hindernis.
Die US-Pläne lassen diese Bemühungen jedoch plötzlich wie eine Nebenstrategie erscheinen. Europäer fragen sich, ob Washington die politische Last der Vermögensfreigabe auf die EU abwälzen will, während amerikanische Firmen die operative Kontrolle gewinnen.
Ökonomische Interessen prägen die Friedensagenda
Die US-Vision geht weit über Wiederaufbau hinaus. Sie enthält Vorstellungen über wirtschaftliche Kooperationen mit Russland – etwa in der Arktis oder beim Abbau seltener Erden. Damit verschiebt sich die Hierarchie der Ziele: Sicherheitsfragen treten zurück, wirtschaftliche Arrangements nach einem möglichen Waffenstillstand rücken vor.
Diese Priorisierung weckt in Kiew Misstrauen. Selenskyj sprach nach der Runde von „Ideen, die funktionieren könnten“ – fügte aber unmittelbar hinzu, dass Sicherheit die Voraussetzung für alles Weitere bleibe. Der Satz zeigt, wie sensibel die Verhandlungen geworden sind: Die Ukraine muss verhindern, dass ökonomische Sichtweisen territoriale Kompromisse erzwingen.

Die Gefahr eines politischen Ungleichgewichts wächst
Dass die US-Regierung bereit ist, Grenzfragen in den Hintergrund zu stellen, erschüttert die europäische Linie. Sollte die Logik „Wirtschaft first“ bestimmend werden, könnte die Ukraine mit Forderungen konfrontiert werden, die sie bislang kategorisch ablehnt. Besonders kritisch wäre ein Szenario, in dem Russland über wirtschaftliche Kooperationen wieder Zugang zu westlichen Technologien und Märkten erhält – ohne klare sicherheitspolitische Garantien für Kiew.
Die kommenden Verhandlungsrunden in Paris und Berlin werden deshalb zu einer Art Richtungsreferendum: Soll ein Waffenstillstand primär geopolitisch oder primär wirtschaftlich gestaltet werden?
Der eigentliche Bruch liegt in der Rollenverteilung
Europa sieht sich als politischer Stabilitätsanker. Die USA präsentieren sich zunehmend als Architekt des wirtschaftlichen Wiederaufbaus – und beanspruchen die operative Führung. Wenn Larry Fink am Verhandlungstisch sitzt, dann nicht als Symbol für „gierige Wall Street“, sondern als Ausdruck einer strategischen Neuausrichtung amerikanischer Außenpolitik: Wiederaufbau als Geschäftsfeld, nicht als Solidaritätsprojekt.
Genau darin liegt die neue Konfliktlinie zwischen Washington und den europäischen Hauptstädten – und die Erkenntnis, dass die Frage nach Frieden in der Ukraine künftig genauso an den Märkten entschieden wird wie an den Grenzen.



