Der Stadtraum wird zur Kampfzone
Berlin, Alexanderplatz. Wer sich hier heute aufhält, begegnet allem – nur keinem Gefühl von Öffentlichkeit. Statt offenen Plätzen: Absperrgitter, abgestellte Roller, improvisierte Verkaufsstände und Müll.
Was früher Treffpunkt war, ist heute Durchgangsfläche. Keine Stadt ohne „Event“, kein Gehweg ohne Hindernis. Es ist nicht der Verfall im baulichen Sinne, der irritiert – es ist der mentale.
Platz ist da – aber niemand weiß mehr, wofür
Der öffentliche Raum ist eigentlich simpel definiert: Orte, die allen gehören. Also niemandem allein. Doch gerade diese Unschärfe lädt zur Belagerung ein. Da stellen Gastronomen ihre Tische auf den Bürgersteig, als wäre es ihr Eigentum.
Lieferdienste parken auf dem Zebrastreifen, Influencer tanzen vor der Rathausfassade. Jeder beansprucht den Raum – aber kaum jemand gestaltet ihn im Sinne des Gemeinwohls.

Die Vermüllung beginnt im Kopf
Man kann sich über überquellende Papierkörbe aufregen. Aber sie sind nur das Symptom. Die Ursache liegt tiefer. Es fehlt an Rücksicht – und an einem Bewusstsein dafür, dass Stadt mehr ist als Kulisse.
Wer achtlos seinen Coffee-to-go-Becher in die Hecke wirft, zeigt nicht nur mangelnde Erziehung. Sondern eine Haltung: Das hier ist nicht mein Problem. Dabei wäre genau das der Kern des Öffentlichen – dass es eben doch alle etwas angeht.
Verkehr, Kommerz, Kontrolle
Die Städte reagieren hilflos: mit Regelungen, Absperrungen, Farbmarkierungen. Ein Gitter hier, ein Poller dort. Die Friedrichstraße in Berlin wird zum Dauerexperiment – mal autofrei, mal wieder nicht.
Statt einladende Räume zu schaffen, entstehen Verwaltungszonen. Wer wo gehen, stehen oder fahren darf, wird reglementiert. Aber Regeln ersetzen keine Kultur. Und Ordnung ersetzt kein Miteinander.
Vom Marktplatz zur Abstellfläche
Was früher „Platz“ hieß, war nie nur Fläche. Es war Bühne. Öffentlichkeit. Debatte. Heute ist der Stadtraum überlagert von Funktion: Verkehr, Kommerz, Tourismus. Übrig bleibt selten etwas für das, was Städte einmal ausgemacht hat – Spontanität, Schönheit, Zugehörigkeit. Der Skater neben dem Straßenmusiker, das Kind auf dem Brunnenrand, das ältere Paar auf der Bank: Diese Szenen werden seltener.
Digitale Öffentlichkeit, reale Leere
Gleichzeitig hat sich ein großer Teil des sozialen Lebens ins Netz verlagert. Wer kommuniziert, tut das über WhatsApp, Instagram und TikTok. Der Marktplatz, auf dem man sich früher zufällig traf, wurde durch den Gruppenchat ersetzt.

Die Ohrstöpsel im Ohr sind nicht nur für Musik da – sie sind Schutzschilde gegen das Außen. Die Stadt rauscht vorbei, während jeder in seiner Blase bleibt.
Architektonische Abrüstung
Manche Probleme sind alt. Schon in den 50er-Jahren begannen Städteplaner damit, gewachsene Strukturen aufzubrechen. Breite Straßen statt enger Gassen, Parkplätze statt Plätze. Viel Beton, wenig Geschichte.
Der Versuch, modern zu wirken, endete oft in Beliebigkeit. Und diese Leere wurde gefüllt – mit allem, was laut, schnell und billig ist.
Der Rückzug ins Private rächt sich
Was fehlt, ist ein öffentlicher Anspruch. Eine Idee davon, wie wir Räume gemeinsam nutzen – und nicht nur dulden. Stattdessen rückt das Private immer weiter vor. Der Balkon wird zum Wohnzimmer, der Park zur Partyfläche.
Und wer sich an nächtlichem Lärm oder Müllbergen stört, gilt schnell als spießig. Dabei wäre gerade das Gegenteil nötig: ein neuer Stolz auf das Gemeinsame.
Das Politische beginnt am Bordstein
Es ist Zeit, die öffentliche Ordnung nicht nur polizeilich zu denken – sondern zivil. Denn wer den Stadtraum aufgibt, gibt auch ein Stück Demokratie auf. Wo keine Begegnung mehr stattfindet, wächst das Misstrauen. Wo jeder nur seinen Anspruch durchsetzt, ohne Rücksicht auf andere, entsteht kein Gemeinwesen. Der Stadtraum ist nicht nur Raum. Er ist Aussage.
Der Appell beginnt im Kleinen
Was tun? Es braucht keine neuen Verordnungen, sondern mehr Haltung. Ein aufgehobener Becher, ein aufgerichteter E-Roller, ein Blickkontakt statt Kopfhörer – das wäre ein Anfang. Städte müssen nicht perfekt sein. Aber sie sollten wieder spürbar machen, dass sie allen gehören. Und dass das nicht nur Verpflichtung ist, sondern auch Möglichkeit.
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