Ein Spaziergang durch Portofino kann mittlerweile teurer enden als ein Aperitivo mit Meerblick. Wer in der malerischen Kleinstadt an der ligurischen Küste zu lange in den „zone rosse“ verweilt – ausgewiesene rote Zonen, die der Bürgermeister 2023 eingeführt hat –, riskiert ein Bußgeld. Einfach nur rumsitzen? Verboten. Freier Oberkörper? Ebenfalls tabu.
Und wer auf die Idee kommt, mit dem Bier in der Hand durch die Altstadt zu schlendern, zahlt schnell doppelt: für das Getränk und für die Ordnungswidrigkeit. Willkommen im neuen Europa, wo Urlauber mehr Regeln beachten müssen als Verkehrsteilnehmer in Rom.
Von Null auf Überlaufen – Europas Tourismus im Ausnahmezustand
Was als Revanche auf den pandemiebedingten Stillstand begann, hat sich zu einem hausgemachten Problem entwickelt: Europas Altstädte, Strände und Naturparadiese platzen aus allen Nähten.
Frankreich führt die globale Tourismusliste mit 109 Millionen Besuchern an, Spanien folgt mit 94 Millionen, Italien liegt auf Rang fünf. Und auch Deutschland mischt mit Platz neun vorne mit. Doch der wirtschaftliche Rückenwind bringt massive Nebenwirkungen mit sich: Wohnraum wird verdrängt, Müllberge wachsen, Anwohner fliehen – und Kommunen geraten ins Schleudern.
Dabei ist der Tourismus für viele Länder ein zentraler Wirtschaftsfaktor. In der EU liegt der Anteil am BIP bei rund zehn Prozent, in Spanien und Portugal bei stolzen zwölf, in Griechenland und Kroatien sogar bei etwa 20 Prozent.

Ein gutes Geschäft – eigentlich. Wären da nicht die überforderten Infrastrukturen, die schmelzende Geduld der Einheimischen und eine Politik, die zwischen Wachstum und Kontrolle balancieren muss wie ein Surfer auf der Welle des Populismus.
Betten, Boote, Badeverbot – Der Süden macht ernst
Südtirol beschloss als eine der ersten Regionen eine Bettenobergrenze – ein Zeichen, dass man Wachstum nicht mehr um jeden Preis will. In Sardinien muss man seinen Strandbesuch teilweise per App reservieren.
In Venedig zahlen Tagestouristen seit 2024 Eintritt. Auf Mallorca flehen Einwohner in offenen Briefen um eine Atempause. Und in Barcelona kündigte die Stadtverwaltung an, bis 2028 sämtliche Kurzzeitvermietungslizenzen auslaufen zu lassen – ein Frontalangriff auf Airbnb und Co.
Mallorca, einst das Sinnbild für bezahlbaren Urlaub in der Sonne, ist heute ein Pulverfass. 13,4 Millionen Menschen besuchten die Insel allein 2024 – bei knapp 900.000 Einwohnern.
Die Folge: explodierende Mieten, Souvenirläden statt Supermärkte, täglicher Stau bis ans Meer. Die Reaktion? Eine Mischung aus Kapitulation und Kampfansage: Kurtaxen steigen, illegale Inserate werden gelöscht, Einheimische demonstrieren.
Selbst auf den abgelegenen Wanderwegen Südtirols regt sich Widerstand: Bauern, die sich von der Politik im Stich gelassen fühlen, errichteten ein Drehkreuz auf einem beliebten Bergpfad – samt symbolischer „Fußgängermaut“. Ein stiller, aber unüberhörbarer Protest.
Skandinavien im Hitzefieber: Wenn das Nordkap zur neuen Adria wird
Was dem Süden zu heiß wird, zieht der Norden an. In Norwegen, Schweden und Finnland boomt der sogenannte „Coolcation“-Tourismus. Wer 40 Grad im Schatten meiden will, fährt jetzt ins Fjordland.

Doch auch hier wird es eng: Die Lofoten zählen über eine Million Übernachtungen im Jahr – auf 25.000 Einwohner. Müllberge, überfüllte Straßen, wild campierende Touristen und menschliche Notdurft in Naturschutzgebieten sorgen für Empörung. Die Reaktion: Verbot von Kreuzfahrtschiffen, neue Tourismusabgaben, Verteilungsstrategien – und in Schweden sogar ein digitaler Toilettenkurs für Wanderer.
Kopenhagen setzt auf positive Anreize: Wer Müll sammelt oder mit dem Fahrrad unterwegs ist, erhält Freikarten für Museen. Das Projekt „CopenPay“ soll ein Beispiel sein für sanften Tourismus – mit Belohnung statt Bestrafung.
Die Rückkehr der Kontrolle: Europa tastet sich an die Obergrenze
Immer mehr Städte und Regionen geben sich neue Spielregeln. Wer in Portofino trödelt, zahlt. Wer in Bozen die Alm nicht respektiert, findet sich hinter einem Drehkreuz wieder. Wer in Venedig Tagesausflüge plant, muss Eintritt zahlen.
Und wer in Gotland im Juli Ruhe sucht, wird laut Einheimischen enttäuscht: „Widerlich“ sei der Monat, sagt eine Anwohnerin. Die Regionalchefin Meit Fohlin fordert deshalb eine Tourismussteuer. Doch Stockholm lehnt bislang ab – und setzt stattdessen auf freiwillige Maßnahmen.
Wenig überraschend, dass in Norwegen das Parlament inzwischen erlaubt, dass besonders belastete Orte eine Touristenabgabe von drei Prozent einführen dürfen. Das Geld soll in Wanderwege, Parkplätze und sanitäre Anlagen fließen. Eine Lösung mit Charme – und Kopierpotenzial für andere Regionen.
Rückeroberung der Städte – oder Vertreibung der Gäste?
Die Debatte ist offen: Ist das noch Steuerung – oder schon Abschreckung? Klar ist: Was sich in den letzten Jahren angestaut hat, entlädt sich nun in politischen Entscheidungen.
Der freie Markt regelt nichts, wenn Touristen eine Stadt wie Barcelona zu einem einzigen Selfie-Set verkommen lassen. Wenn Dörfer in Südtirol ihre Identität verlieren. Wenn Inseln wie Gotland oder Santorini überrollt werden.
Dabei steckt hinter vielen Maßnahmen auch ein neues Selbstbewusstsein. Lange galt: Je mehr, desto besser. Heute heißt es: Qualität vor Quantität. Weniger Besucher, aber mehr Rücksicht. Wer bleiben will, muss sich benehmen. Oder zahlen. Oder beides.
Der Massentourismus wird zur politischen Großbaustelle
Der Kampf gegen Overtourism ist längst keine Randnotiz mehr, sondern ein wirtschaftliches, ökologisches und soziales Schlüsselthema. Europas Antwort auf den Ansturm ist vielfältig – und oft radikal.
Städte wie Venedig, Barcelona oder Portofino setzen klare Zeichen. Skandinavien sucht nach fairer Verteilung. Und die Politik bewegt sich zaghaft auf eine neue Ära des Reisens zu: bewusster, begrenzter, besser gelenkt.
Ob das reicht? Unklar. Aber eines steht fest: Der Sommer der neuen Regeln hat begonnen.
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