Ein Paradox der europäischen Asylpolitik
Mehr als 110.000 Menschen, die bereits in Griechenland als Flüchtlinge anerkannt sind, haben in Deutschland ein weiteres Mal Asyl beantragt. Was nach einem Einzelfall klingt, ist längst ein strukturelles Problem.
Laut einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Grünen umfasste diese Gruppe zum 30. September 2025 genau 110.696 Personen – darunter 63.692 Männer, 47.004 Frauen und 1.248 unbegleitete Minderjährige.
Die meisten stammen aus Afghanistan (45.734), Syrien (36.312) und dem Irak (12.464). Weitere Herkunftsländer: Somalia, die palästinensischen Gebiete, Iran, Jemen, Türkei und Sudan. Bei knapp 5.000 Fällen blieb die Herkunft ungeklärt – ein bezeichnendes Detail in einem bürokratischen Dauerbrenner.
Griechenland schützt – Deutschland prüft
Der Fall offenbart ein Grundproblem europäischer Asylpolitik: Schutzstatus in einem EU-Land bedeutet nicht, dass sich Betroffene dort auch sicher oder versorgt fühlen. In Griechenland klagen viele anerkannte Flüchtlinge über Obdachlosigkeit, fehlende Integration und mangelnde Sozialleistungen. Viele zieht es daher weiter nach Norden – nach Deutschland, wo die Sozialhilfesysteme stabiler und die Chancen auf Arbeit oder Unterstützung höher sind.
Doch nach einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. April 2025 gilt: Rückführungen nach Griechenland sind grundsätzlich zulässig. Das Gericht entschied, dass alleinstehenden, gesunden und arbeitsfähigen Schutzberechtigten dort keine unmenschlichen oder erniedrigenden Lebensbedingungen drohen. Ein Urteil, das juristisch Klarheit schaffen sollte – aber in der Praxis kaum Wirkung entfaltet hat.
Verwaltung am Limit – Umsetzung kaum sichtbar
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) hat seine Praxis inzwischen angepasst. In einem Rundschreiben vom 25. April 2025 wies es an, Asylanträge „hinreichend gesunder, arbeitsfähiger Personen, insbesondere Männer“ künftig nach §29 Abs. 1 Nr. 2 Asylgesetz als unzulässig zu bewerten. Nur bei „besonderer Verletzlichkeit“ – etwa Krankheit, Schwangerschaft oder Betreuungspflichten – erfolgt eine inhaltliche Prüfung.
Bis Ende September traf das Bamf 17.283 Unzulässigkeitsentscheidungen, davon sind 9.462 rechtskräftig. Das entspricht weniger als einem Zehntel aller laufenden Verfahren. In den meisten Fällen handelt es sich um junge Männer zwischen 18 und 34 Jahren, vor allem aus Syrien und Afghanistan.
Trotz dieser juristischen Fortschritte bleibt die Umsetzung schleppend. Rückführungen nach Griechenland finden de facto kaum statt. In der Praxis scheitert vieles an der Zusammenarbeit zwischen Athen und Berlin, an begrenzten Kapazitäten oder schlicht am politischen Willen.
Politisch gewollte Unsicherheit
Die Bundesregierung verweist auf die geltende Rechtslage – und betont, dass den Betroffenen in Griechenland keine „existenzielle Notlage“ drohe. Doch das Urteil schafft mehr Symbolik als Lösung.
Denn während das Gericht die Rückführungen erlaubt, verweigert Griechenland oft die Aufnahme. Viele Flüchtlinge sind längst weitergereist oder untergetaucht. Einige Länder im Süden, etwa Italien und Griechenland, werfen Deutschland wiederum vor, durch großzügige Sozialleistungen einen „Sogeffekt“ zu erzeugen.
Das Ergebnis: eine bürokratische Sackgasse.
Deutschland darf abschieben, Griechenland will kaum aufnehmen – und die Betroffenen leben weiter in einem rechtlichen Schwebezustand, oft über Jahre.
Europa zwischen Recht und Realität
Das Dilemma zeigt, wie brüchig das europäische Asylsystem tatsächlich ist. Die sogenannte Dublin-Verordnung, die klar regelt, dass Asylverfahren im Ersteinreiseland geführt werden müssen, funktioniert seit Jahren nur eingeschränkt.
Gerichte urteilen, Verwaltungen entscheiden, aber die europäische Solidarität bleibt Theorie. Statt gemeinsamer Verantwortung herrscht nationale Überforderung.
Für Deutschland bedeutet das: Zehntausende Verfahren, die nach jetzigem Stand scheitern müssten, kosten Zeit, Geld und politische Energie. Für die Betroffenen heißt es: unklare Perspektiven, schwindendes Vertrauen und eine Integration, die gar nicht vorgesehen ist.
Ein System in Schieflage
Die Zahlen sind Ausdruck einer systemischen Schieflage – zwischen rechtlicher Logik und humanitärer Realität. Berlin argumentiert juristisch, Athen verwaltet pragmatisch, Brüssel schweigt – und das Bamf kämpft mit Aktenbergen. Über 110.000 Fälle zeigen: Das europäische Asylsystem ist kein Schutzraum, sondern ein bürokratischer Flickenteppich.
Die Frage, ob Europa seine Werte in Zahlen, Paragrafen oder Solidarität misst, bleibt unbeantwortet. Klar ist nur: Wenn selbst anerkannte Flüchtlinge zwei Mal Asyl beantragen müssen, läuft im System mehr schief als in den Formularen.

