Die Zeit läuft: Frist bis 9. Juli
Brüssel, Donnerstagabend. Die EU-Staats- und Regierungschefs sitzen beim Gipfeldinner, als Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen das Thema auf den Tisch bringt, das seit Wochen auf den Fluren zirkuliert: Ein neuer Vorschlag der USA im schwelenden Zollkonflikt.
Die Uhr tickt. US-Präsident Donald Trump hat der EU eine Frist bis zum 9. Juli gesetzt. Kommt bis dahin kein Abkommen zustande, drohen Zusatzabgaben auf europäische Exporte – unter anderem auf Autos, Maschinen, Medikamente und Halbleiter.
Von der Leyen bleibt betont sachlich: „Wir sind bereit für eine Einigung – gleichzeitig bereiten wir uns auch darauf vor, dass es keine geben wird.“ Die Botschaft ist klar: Die Kommission verhandelt. Aber nicht um jeden Preis.
Merz will Tempo, Macron verlangt Substanz
Der Ton unter den EU-Staaten ist jedoch nicht einheitlich. Kanzler Friedrich Merz (CDU) drängt auf einen raschen Abschluss – und verweist auf die heimische Industrie. „Die Zölle treffen unsere Schlüsselbranchen mit voller Wucht: Maschinenbau, Chemie, Pharma, Automobil. Wir brauchen eine schnelle Lösung – nicht ein weiteres komplexes Handelsabkommen, das erst in zwei Jahren greift.“
Der Kanzler hat es eilig. Verständlich, denn für deutsche Exporteure hängen Tausende Arbeitsplätze an der Zollfrage. Doch nicht alle in Europa teilen seine Eile.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron gibt sich deutlich zurückhaltender. Ein Abkommen ja – aber nicht zu amerikanischen Bedingungen. „Unser guter Wille darf nicht als Schwäche ausgelegt werden“, warnt er. Sollte der US-Zollsatz bei zehn Prozent bleiben, müsse die europäische Antwort ebenso deutlich ausfallen.

Trump erhöht den Druck
Der aktuelle Vorschlag aus Washington ist nicht öffentlich, doch EU-Diplomaten berichten, dass sich die USA eine Grundstruktur mit beidseitigen zehn Prozent Zöllen vorstellen können. Das wäre – gegenüber dem derzeitigen EU-Niveau – ein Rückschritt. Denn die Union erhebt auf viele US-Produkte aktuell deutlich weniger.
Trump macht unterdessen klar, dass er auf Zeit spielt – aber nach seinen Regeln. Sollte bis zur Frist kein Deal stehen, werde der US-Zusatzzoll verdoppelt. Von zehn auf zwanzig Prozent.
US-Finanzminister Scott Bessent signalisierte zwar, dass „vertrauenswürdige Verhandlungspartner“ möglicherweise eine Fristverlängerung bekommen könnten. Doch wer damit gemeint ist – Europa? Japan? Kanada? – bleibt offen.
Europa stellt das System infrage
Während der Streit mit Washington eskaliert, denkt die EU bereits über den Tellerrand hinaus. Ursula von der Leyen bringt eine Idee ins Spiel, die den Welthandel grundlegend verändern könnte: Eine Neuordnung der WTO – oder gar eine Alternative.
„Die asiatisch-pazifischen Staaten wollen eine strukturierte Zusammenarbeit mit der EU – und wir wollen dasselbe“, so von der Leyen. Es geht um den CPTPP, das transpazifische Handelsbündnis, in dem Länder wie Australien, Kanada, Chile oder Singapur vertreten sind.
Friedrich Merz bestätigt, dass die Kommission konkret darüber nachdenkt, wie man „eine neue Art von Handelsorganisation“ aufbauen könnte – als Reaktion auf die Dauerblockade der WTO durch die USA. Seit Jahren verhindert Washington die Neubesetzung der Schiedsrichter – und damit effektive Streitbeilegung.
Viel Lärm – aber kein klarer Kurs
Europa ringt mit sich selbst. Zwischen dem wirtschaftspolitischen Pragmatismus eines Merz, der um die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Industrien bangt – und dem strategischen Anspruch eines Macron, der die geopolitische Selbstachtung Europas nicht unter amerikanischen Druck verkaufen will.
Beide Positionen sind legitim. Aber sie verdeutlichen: Die EU hat keinen klaren Kurs. Das zeigt sich auch im Schweigen der übrigen Mitgliedstaaten – viele warten ab, manche lavieren, andere spekulieren bereits auf ein Scheitern der Gespräche.
Einigung? Möglich. Systemfrage? Offen
Ob der neue US-Vorschlag eine Einigung bringt, bleibt offen. Wahrscheinlicher ist, dass Brüssel erneut Zeit kauft – vielleicht durch eine Fristverlängerung, vielleicht durch einen symbolischen Minimalkompromiss.
Doch der eigentliche Konflikt ist grundsätzlicher: Die Frage, ob das westliche Modell des freien, regelbasierten Handels überhaupt noch funktioniert, wenn einer der beiden Hauptakteure – die USA – sich nicht mehr an die Regeln halten will.
Die EU steht an einem Wendepunkt. Ein möglicher Kompromiss mit Washington könnte den unmittelbaren Schaden begrenzen – die strukturelle Erosion des multilateralen Handelssystems wird er nicht aufhalten.
Und vielleicht ist das die eigentliche Botschaft des Brüsseler Gipfels: Die EU muss nicht nur verhandeln – sondern neu denken.
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