Schuldenkrise? Die Börse applaudiert
Amerikas Staatsschulden haben längst historische Dimensionen erreicht: über 120 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Allein die Zinslast liegt inzwischen bei 1,2 Billionen Dollar pro Jahr – mehr, als die USA für Bildung, Forschung und Infrastruktur zusammen ausgeben. Trotzdem steht der S&P 500 auf Rekordniveau.
Der Grund: Anleger interessieren sich derzeit weniger für die Staatsfinanzen als für Unternehmensgewinne. „Die US-Börse ist nicht der US-Haushalt“, sagt Marco Rumpf von der DRH Vermögensverwaltung. Während Washington in Schulden versinkt, profitieren börsennotierte Konzerne von genau dieser Geldflut – und vom schwächelnden Dollar.
Der schwache Dollar als Profitmaschine
Der US-Dollar hat seit Jahresbeginn rund 12 Prozent gegenüber dem Euro verloren. Für europäische Investoren ist das ärgerlich, weil Wechselkursverluste Kursgewinne schmälern. Für US-Unternehmen ist es ein Geschenk.
Denn rund 41 Prozent der Umsätze der S&P-500-Konzerne stammen aus dem Ausland, im Technologiesektor sogar über die Hälfte. Ein schwächerer Dollar macht ihre Produkte billiger – und steigert die Gewinne, sobald diese in US-Währung umgerechnet werden. Der Abwärtstrend des Dollars wirkt damit wie ein verdeckter Gewinnhebel.
Politisches Theater ohne Wirkung
Der jüngste Government Shutdown, bei dem fast eine Million Staatsbedienstete unbezahlt zu Hause blieb, ging an den Märkten nahezu spurlos vorbei. Historisch gesehen ist das keine Überraschung: Schon während der Haushaltskrisen unter Donald Trump oder Barack Obama setzte die Wall Street ihren Aufwärtstrend fort.
Für Investoren zählt, dass die USA trotz politischer Blockaden handlungsfähig bleiben – und dass die Federal Reserve die Zinswende eingeleitet hat. Seit der ersten Zinssenkung im September hat sich die Stimmung deutlich aufgehellt.
Überbewertet? Nur auf den ersten Blick
Tatsächlich sind US-Aktien so teuer wie selten zuvor. Das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) des S&P 500 liegt deutlich über dem historischen Schnitt. Doch klassische Bewertungsmaßstäbe greifen in Zeiten von KI nur bedingt.
„Die großen Tech-Konzerne besitzen immaterielle Werte – Patente, Algorithmen, Marken –, die in Bilanzen kaum auftauchen“, erklärt Rumpf.
Diese strukturelle Verschiebung lässt alte Bewertungsmodelle alt aussehen. Investoren preisen heute weniger Maschinen ein als künftige Rechenleistung.
Der KI-Faktor: Wachstum wie bei der Elektrifizierung
Die sogenannte „Magnificent 7“ – Apple, Microsoft, Nvidia, Amazon, Alphabet, Meta und Tesla – erzielte im zweiten Quartal ein Gewinnwachstum von 26,6 Prozent. Die übrigen 493 S&P-Unternehmen kamen auf knapp acht Prozent.
Der Treiber: Künstliche Intelligenz. Sie verändert derzeit ganze Branchen – ähnlich wie einst Elektrizität oder das Internet.
Während der Internetboom in den 1990ern von unausgereiften Geschäftsmodellen geprägt war, verdienen die heutigen Tech-Giganten real Geld. Ihre Marktmacht ist so groß, dass sie den gesamten Index tragen.
Rumpf vergleicht die aktuelle Phase mit dem „Moment, als Strom die Welt erleuchtete“. Zwischen 1880 und 1920 stieg das globale Wirtschaftswachstum von 0,7 auf über drei Prozent. Durch KI, Automatisierung und Robotik sei ein neues Produktivitätszeitalter möglich – mit globalen Wachstumsraten von bis zu sechs Prozent jährlich.
Liquidität treibt, Geldmenge explodiert
Neben Technologie treibt vor allem Liquidität die Kurse. Seit 2020 ist die US-Geldmenge M2 um rund 10.000 Dollar pro Kopf gestiegen – von 53.000 auf 63.000 Dollar. Ein Teil dieses Geldes landet über Banken, Fonds und Pensionskassen an den Börsen.
Der Effekt ist massiv: Wer 1974 nur 1.000 Dollar in US-Aktien investierte, besitzt heute rund 341.000 Dollar – inflationsbereinigt immerhin 56.000. Das zeigt, wie stark das Finanzsystem durch ständige Liquiditätszufuhr aufgebläht wurde.
Risiko bleibt – aber der Markt ignoriert es
Natürlich gibt es Schattenseiten. Das Schuldenwachstum ist auf Dauer nicht tragfähig, geopolitische Spannungen mit China könnten jederzeit eskalieren, und der Bankensektor bleibt anfällig. Doch diese Risiken treten in den Hintergrund, solange Anleger fest an das Fortbestehen des „Fed-Put“ glauben – die Überzeugung, dass die US-Notenbank im Ernstfall eingreift.
Der Aufstieg nährt sich selbst
Die Wall Street ist längst ein geschlossenes System aus Liquidität, Technologie und Psychologie. Schulden sind hier kein Bremsklotz, sondern der Treibstoff. Der Dollar fällt – und die Gewinne steigen. Was an den Märkten passiert, ist keine Euphorie, sondern ein neuer Gleichgewichtszustand: Solange Geld billig bleibt und KI wächst, bleibt die Rallye intakt. Oder, wie es ein Analyst an der Wall Street formulierte:
„Amerika hat Schulden. Aber es hat auch Nvidia.“

